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Channel: Digitale Schule Archive - J&K – Jöran und Konsorten
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Warum die Digitale Revolution des Lernens gescheitert ist

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Jöran Muuß-Merholz beim 30c3Vortrag von Jöran Muuß-Merholz beim Kongress des Chaos Computer Club (CCC) am 30.12.2013 in Saal 2 des CCH

Der digitale Wandel hat uns grandiose Chancen für selbstbestimmtes, kreatives, kollaboratives, kritisches und demokratisches Lernen gebracht. Wir haben sie nicht genutzt.

für Bildnachweise etc.: die Vortragsfolien (pdf)

Die Ankündigung:

Am Morgen nach der Erfindung des Internets stand der Erste auf, um die Revolution des Lernens auszurufen. Jahrzehnte später haben wir alles an Technologie, was für die Revolution nötig erschien. Und alle Ziele grandios verfehlt. Die Verheißungen blieben aus. Es kamen elearning anstelle von selbstbestimmtem Lernen, Friss-oder-Stirb-Apps anstelle von (De-)Konstruktionswerkzeugen, multimediale Vokabeltrainer anstelle von grenzenlosen Communities, elitäre Edu-Zirkel anstelle einer Demokratisierung des Lernens. Stattdessen haben wir bunte YouTube-Videos, die das Schulfernsehen der 1970er Jahre kopieren. Wir besuchen den Massen-Onlinekurs statt den Massen-Hörsaal, Google statt die Bibliothek. Mit digitalen Schulbüchern können wir praktisch weniger anfangen als mit den analogen Vorgängern. In das Lexikon kann man inzwischen reinschreiben – macht aber keiner. Graf Zahl heißt jetzt Salman Khan. Mario Sixtus ist unser Jean Pütz. Zeit für Ernüchterung. Oder?

Rückmeldungen

Besonderer Dank für das umfangreiche Feedback via Twitter, das im Folgenden (chronologisch) gesammelt ist. Weiteres Feedback und interessante Menschen finden sich in den Kommentaren bei Google+ und auf YouTube hier und hier.

https://twitter.com/MarcusMoeller/status/417628084959838209

https://twitter.com/MarcusMoeller/status/417633202635669505


Schule in der Digitalen Gesellschaft: Warum wir neu lernen müssen

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… und wie uns das dreifach über-herausfordert

Cover der Zeitschrift "Log In" Ausgabe 180

Cover der Zeitschrift „Log In“

Dieser Text von Jöran Muuß-Merholz erschien erstmal im Februar 2015 in der Zeitschrift „LOG IN – Informatische Bildung und Computer in der Schule“, Heft 180 zum Thema „Digitale Gesellschaft“. Die folgende Fassung unterscheidet sich in Details und Bebilderung. 

I.    Handy verboten!

Foto „Rauch- und Handyverbot“ by Jöran Muuß-Merholz unter CC BY 4.0

Foto „Rauch- und Handyverbot“ by Jöran Muuß-Merholz unter CC BY 4.0

Wer verstehen will, warum „Handyverbote“ oder „Digitale Hausordnungen“ derzeit ein großes Streitthema in unseren Schulen ist und warum sich die Schule beim Eintritt in die Digitale Gesellschaft schwer tut, dem sei ein 40 Jahre altes Buch empfohlen. In „Überwachen und Strafen“ beschreibt der Philiosoph Michel Foucault drei Machttechniken, die vordergründig in Gefängnissen, aber explizit in allen einschließenden Institutionen zur Geltung kommen, in Fabriken, Schulen, Kasernen oder Spitälern:

  1. Eingeschlossenheit: Die Individuen befinden sich in einem nach Außen abgeschlossenen Bereich. Es wird kontrolliert, wer und was hinein und heraus gelangt.
  2. Parzellierung: Die Individuen haben in diesem Bereich feste Orte und festgelegte Funktionen.
  3. Hierarchisierung: Es gelten Normen und Leistungsstandards, die die Individuen je nach Erfüllungsgrad klassifizieren.

Auch wenn diese Kontrollmechanismen in modernen Schulen in Reinform nicht mehr so deutlich zu sehen sind, lassen sie sich in der Zuspitzung der „alten Schule“ erkennen. Im Zweifelsfall hat der Schüler als Individuum nicht die Kontrolle darüber …

  1. … wann er kommt und geht, was er in die Schule mitbringt und aus der Schule mit nach Hause nimmt.
  2. … wo er sich innerhalb der Schule wann aufhält und was er dort jeweils zu tun und zu lassen hat.
  3. … an welcher Stelle er in einer Hierarchie eingeordnet wird, die von Anpassung („regelmäßige freiwillige Mitarbeit“), Leistungskontrolle und -bewertung bestimmt ist.

Die Kontrolle über diese Fragen liegt beim Lehrer bzw. bei der Schule.

Was hat dies nun mit dem Verboten von Handys zu tun? Erst einmal nichts. Der Begriff „Handy“ führt in die Irre, denn ist es gar nicht das Telefonieren, was eingeschränkt werden soll. Es geht vielmehr um sogenannte Smartphones, also Geräte mit großem Funktionsumfang, Internetzugang und Kamera inklusive. Smartphones sind keine Telefone, sondern Kontrollüberwindungsgeräte.

II.    Hermines Handtasche mit unaufspürbarem Ausdehnungszauber

Der Begriff „Smartphone“, also „schlaues Telefon“ ist eine Verniedlichung für einen vernetzten und mächtigen Computer, mit dem man zufällig auch telefonieren kann. Es lohnt sich, einen genauen Blick auf diese Geräte zu werfen, für die wir nicht zufällig keinen passenden Namen haben. Ja, Smartphones sind auch Telefone. Aber sie sind auch 999 andere Dinge. Wer ein solches Gerät bei sich trägt, der hat in der Hosentasche beispielsweise  folgende Dinge bei sich:

  • eine Enzyklopädie
  • eine Fotokamera
  • eine Videokamera
  • ein Arbeitsblattsammlung
  • ein Vokabeltrainer
  • ein Bestimmungsbuch
  • ein Audiorekorder
  • eine Zettelablage
  • eine Spielekonsole
  • eine Videothek
  • ein Sexshop
  • ein Reisebüro
  • ein Schrittmesser
  • eine Uhr
  • ein Wecker
  • ein Radio und ein Fernseher
  • eine Selbsthilfegruppe
  • ein Fotoalbum
  • ein Taschenrechner
  • ein Kompass
  • eine Sternenkarte
  • ein Navi
  • ein Musikabspielgerät und eine Plattensammlung
  • eine Zeitung
  • ein Wettbüro
  • eine Bücherei

… und noch unzählige andere Werkzeuge mehr. Vor diesem Hintergrund erinnert das Gerät an ein Schweizer Taschenmesser mit 1000 Funktionen. Und jede dieser Funktionen lassen sich auch ganz unterschiedlich anwenden, wie beim Taschenmesser, mit dessen scharfer Klinge man sowohl ein gutes Essen zubereiten wie auch eine andere Person verletzen kann. Mit der Fotokamera lässt sich genauso gut das Tafelbild wie die Umkleide fotografieren.

Als wäre das noch nicht komplex genug: Das Smartphone ist nicht „nur ein Werkzeug“, wie es irrtümlich häufig behauptet wird. Es ist nicht nur Zugang zu Informationsquellen zu allen Themen. Mindestens genauso wichtig: Es ist gleichzeitig die Plattform für Kommunikation und Zusammenarbeit mit anderen, ob im selben Raum oder am anderen Ende der Welt. Und auch hier gilt: Der Verwendungszweck ist damit keineswegs definiert. Mittels einer Facebook-Gruppe kann man genauso gut gemeinsames Mathe-Lernen wie Pro-Ana-Aktivitäten organisieren.

All das steckt in diesem kleinen Gerät, von dem man auf dem ersten Blick nicht einmal sehen kann, ob eine Person es bei sich trägt oder nicht. (Nebenbei: Alleine durch die zunehmende Verkleinerung der Technik wird die Durchsetzung einschlägiger Verbote zu einem vergeblichen Kampf.) Eine Metapher, die das Smartphone noch besser charakterisiert als die vom Schweizer Taschenmesser, stammt aus dem Buch bzw. den Filmen „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“. Darin besitzt die Protagonistin Hermine eine Handtasche mit einen „unaufspürbarem Ausdehnungszauber“. Die Website „Harry Potter Wiki“ beschreibt diese Tasche wie folgt:

„Obwohl es aussieht als könnte es nur sowas wie einen Lippenstift und ein Taschentuch fassen, enthält es dank eines unaufspürbaren Ausdehnungszaubers die Rucksäcke von Harry und Ron, Harrys Tarnumhang, Kleidung für alle drei, ihre Schlafsäcke, ihre Zeltausrüstung, sämtliche Bücher, die Hermine für ihre Reise nützlich fand, eine magische Reiseapotheke, den geklauten Vorrat des Vielsaft-Tranks von Mad-Eye Moody… und im Laufe der Reise kommen noch so sperrige Dinge hinzu, wie das Porträt von Phineas Nigellus, das im Grimmauldplatz Nr. 12 hing. Von außen ist dem Handtäschchen nichts Verdächtiges anzusehen und auch gewichtsmäßig scheint sich der hineingepackte Inhalt nicht bemerkbar zu machen. Hermine kann ihr wertvolles Täschchen auch gelegentlich im Strumpf verstecken, ohne dass es auffällt.“

Ein Smartphone teilt die allermeisten Eigenschaften mit Hermines Handtasche: Es ist klein, leicht, übersehbar und immer dabei. Darin verbergen sich unendlich viele Inhalte, Werkzeuge und Möglichkeiten. Wie und wozu man es einsetzt hängt immer von der jeweiligen Situation ab. Allgemein lässt sich über Handtasche bzw. Smartphone nicht viel sagen – interessant wird es erst, wenn es konkret wird, wenn also etwas aus dieser Handtasche herausgeholt und genutzt wird. Und auch dann wird man hauptsächlich über die eine von 1000 Möglichkeiten sprechen, für die man das Smartphone nutzt, und das Gerät drum herum vernachlässigen.

Der Vergleich mit einem magischen Gegenstand erklärt, warum uns das Smartphone so stark beschäftigt. Es ist, gemessen an Maßstäben des 20. Jahrhunderts, Zauberei. Es ist geschichtlich ohne Vergleich, dass so viele Inhalte, so mächtige Werkzeuge und weltweite Kommunikationspartner nicht nur existieren, sondern auch für uns verfügbar sind – immer und überall. Hinzu kommt, dass alles auf einen Schlag verfügbar ist, revolutionär, plötzlich, über Nacht, von 0 auf 100 – ach was: auf 1000. Wenn wir sonst mit Neuem umzugehen lernen, so geschieht das in Regel nach und nach, abgestuft, gebremst. Und in der Regel gibt es Erfahrungen und Vorbilder, z.B. traditionell: Erwachsene, von denen die Heranwachsenden lernen.

Ausschnitt aus dem Film
 „Mary Poppins“ (1964, nicht unter freier Lizenz)

Ausschnitt aus dem Film
 „Mary Poppins“ (1964, nicht unter freier Lizenz)

All das ist jetzt anders. Und so ist es kein Wunder, dass wir als Gesellschaft, als Schule und als Individuen erst einmal herausfinden müssen, wie wir mit dem magischen Gegenstand Smartphone umgehen. Häufig sind es die Jüngeren, die mutiger (oder unbedarfter) vorangehen, ausprobieren, herausfinden, aushandeln. Übrigens hatte auch 1964 schon eine zauberhafte Frau eine ähnliche magische Handtasche: Mary Poppins (vgl. Abbildung). Damals waren es noch die Kinder, die mit offenem Mund staunten. Heute sind es bisweilen wir Erwachsenen, die sprachlos daneben stehen und uns wundern, was die Jugend dort an Magie (oder Hexenwerk) hervorholt.

III.    Kontrollverlust

Wenn wir nun Foucaults Machttechniken in der Schule mit den magischen Eigenschaften des Smartphones zusammenbringen, erkennen wir den potentiellen Kontrollverlust.

  1. Eingeschlossenheit: Mit dem Smartphone können Informationen unbegrenzt, rasant und quasi unsichtbar in die Schule herein geholt werden und umgekehrt auch aus der Schule in die ganze Welt gelangen. Das können Lerngelegenheiten im Internet sein, Fotos von Tafelbildern (oder von Lehrer/innen) oder die Zusammenarbeit zwischen Menschen innerhalb und außerhalb der Schule. Der Medientheoretiker Torsten Meyer nennt das „a hole in the wall“ – ein Loch in den Mauern der Schule.
  2. Parzellierung: Zwar muss eine Schülerin sich i.d.R. weiterhin zu festgelegten Zeiten an festgelegten Orten aufhalten: Punkt 8.00 Uhr im Klassenraum, um 10.40 Uhr auf dem Schulhof und um 11.00 Uhr im Computerraum. Mit dem Smartphone kann sie sich aber gleichzeitig an anderen Orten aufhalten: im Klassenraum unter dem Tisch im Chat mit Freunden, in der Pause via Instagram in Japan, und anstelle der alten Rechner im Informatikraum erweitert das leistungsfähigere Smartphone den eigenen Spielraum erheblich.
  3. Nur die Hierarchisierung funktioniert noch einigermaßen. Allerdings stellt sich zunehmend die Frage nach der Relevanz dessen, was in Klassenarbeiten geprüft und mit Zeugnisnoten sortiert wird. Das Lernen, das für die Schüler wichtig ist, findet mithilfe von Google, YouTube, Wikipedia und selbstgewählten Communities statt. Inwiefern die Bildungsziele der real existierenden Schule noch zeitgemäß für die Digitale Gesellschaft sind, muss auch infrage gestellt werden.

Wenn man sich die einzelnen Elemente anschaut, über die traditionell Lehrkraft und Schule die Kontrolle haben, so erkennt man einen Kontrollverlust auf allen Ebenen:

  • Ausstattung: Es wurde selten angezweifelt, wer bestimmt, welche Hardware zum Einsatz kommt – vom Füller bis zum Laptop in der PC-Ecke. Doch dieses Monopol bröckelt, wenn Jugendliche nicht nur digital schneller, fehlerfreier und lesbarer schreiben als mit dem Füller, sondern ihre privaten digitalen Geräten verfügbarer und besser sind als die Schulgeräte.
  • Inhalte: Die Lehrkraft entscheidet, welche Materialien zum Einsatz kommen, z.B. in Form von vorgegebenen Schulbüchern und ausgewählten Arbeitsblättern. Aber was ist, wenn eine Schülerin über ihr Smartphone online für sie passendere Einführungen oder attraktivere Übungen findet?
  • Arbeitsformen und -werkzeuge: Gleiches gilt für die Arbeitsform, die wie der Inhalt vorgegeben wird, was auch einfach damit begründet war, dass Alternativen nicht oder nur mit hohem organisatorischem Aufwand zur Verfügung standen. Doch nun ist es technisch genau so einfach, selbst einen Lückentext oder einen Quiz zu erstellen wie es bisher war, einen solchen zu beantworten.
  • Medienformen: Mit dem Digitalen Wandel einher geht ein möglicher Bedeutungsverlust der bisher dominierten Medienformen Text und gesprochene Sprache. Vor allem für Jugendliche wird Video zur ersten Wahl, wenn es um das Lernen geht. Auch andere Formen wie Simulation gewinnen an Bedeutung. Hinzu kommt ein potentieller Wandel in der Rolle der Lernenden: War es bisher klar, dass sie die Rezipienten von Lehrvideos waren, können sie nun mit wenig Aufwand auch Produzenten werden.
  • Raum, Zeit und Vertraulichkeit: Mit der Kontrolle über Raum und Zeit die Grundfesten des Systems Schule angegriffen. Die Äußerung einer Lehrkraft, die früher nicht weit über das Klassenraum hinaus gelangte, kann heute dank YouTube oder Twitter über Jahre hinaus und für die halbe Welt zugänglich bleiben.

IV.    Traum oder Alptraum für die Bildung?

Aus Sicht der traditionellen Schule ist es verständlich, dass dieser potentielle Kontrollverlust das Gegebene in Frage stellt und bedroht. Handyverbote und digitale Hausordnungen sind eine mögliche Reaktion darauf. Dreht man die Sache um, so lässt sich auch das Potential entdecken: Jeder der aufgezählten Veränderungen lässt sich nicht nur als potentieller Kontrollverlust der Lehrenden, sondern auch als potentielles Empowerment der Lernenden interpretieren.

Was der Kontrollverlust der einen ist, ist die Emanzipation der anderen – allerdings nicht automatisch. Selbstbestimmtes Lernen mit privaten Geräten, mit frei gewählten Methoden und Medienformen, mit Orientierung im unüberschaubaren Inhalte-Fundus – „das können unsere Schüler/innen doch gar nicht!“, mag manch einer dagegen halten. Provokant sei ihm entgegnet: „Natürlich können sie es nicht – wo hätten sie es auch lernen sollen? In der Schule wohl nicht.“

Wenn wir davon ausgehen, dass die Digitale Gesellschaft gerade noch am Anfang steht und die mit ihr verbundenen technischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen sich noch verstärken werden, dann ist genau dieses Empowerment der Lernenden das Bildungsziel, das Schule in der Digitalen Gesellschaft verfolgen muss. PISA-Erfinder Andreas Schleicher hat das angesichts der Digitalen Gesellschaft sehr anschaulich zusammengefasst:

„Put simply, the world no longer rewards people for what they know – Google knows everything – but for what they can do with what they know.

Because that is the main differentiator today, global education today needs to be much more

  • about ways of thinking, involving creativity, critical thinking, problem-solving and decision-making;
  • about ways of working, including communication and collaboration;
  • about tools for working, including the capacity to recognize and exploit the potential of new technologies;
  • and, last but not least, about the social and emotional skills that help us live and work together.“ [Absätze und Aufzählungszeichen von Jöran Muuß-Merholz eingefügt.]

Das Ziel von Schule muss genau die Vermittlung der Kompetenzen sein, deren Fehlen wir gerne als Argument nutzen, um genau dieses Ziel nicht zu verfolgen. Dabei sind entsprechende Kompetenzen auch jenseits von Fragen der Digitalisierung die „21st Century Skills“ (Schleicher). Der Druck, der von den Geräten in den Hosentaschen der Schüler ausgeht, könnte für Schule eine zusätzliche Triebkraft für eine entsprechende Neuausrichtung dienen.

V.    Dreifache Über- / Herausforderung

Nun funktioniert die Neuausrichtung einer gesellschaftlichen Institution wie Schule nicht von heute auf morgen. Der Bildungsbereich ist wohl auch nicht die Speerspitze der Digitalen Gesellschaft. Aber viele Beispiele wie zum Beispiel im Umfeld des Deutschen Schulpreises zeigen, dass eine andere Schule möglich ist. Auch das weite Feld der Schulentwicklung lässt sich hinsichtlich des Digitalen Wandels mit konkreten Schritten erschließen. Vorschläge dafür finden sich bei Wampfler (2013) und Muuß-Merholz (2012).

Was für die Organisation Schule gilt, lässt sich auf die individuelle Ebene herunterbrechen. Lernende werden dreifach herausgefordert:

  • Die Herausforderung des Fachlichen: Lernende sollen weiterhin fachliches Wissen und fachliche Kompetenzen entwickeln. (Schleicher wird missverstanden, wenn man ihm unterstellt, er halte Wissen für verzichtbar. Er sagt vielmehr, man müsse mit diesem Wissen etwas anfangen können. Dafür braucht man es erst einmal.)
  • Die Herausforderung des Lernens: Lernende sollen lernen, selbständig und kooperativ, zielgerichtet und kreativ, praxis-, produkt- oder projektorientiert zu arbeiten.
  • Die Herausforderung des Digitalen: Gleichzeitig müssen (junge wie erwachsene) Lernende lernen, mit den Möglichkeiten und Herausforderungen des Digitalen Wandels zurechtzukommen. Dabei geht es um viel mehr als technische Bedienkompetenz. Es geht vielmehr um ein Leben in und mit magischen Medien, die wir gerade erst zu verstehen beginnen, während sie sich gleichzeitig rasant weiterentwickeln.

Zugespitzt stand die alte Schule vor allem für die erste dieser drei Ebenen. Die Lernformen, -werkzeuge und -medien waren relativ trivial zu beherrschen bzw. wurden durch externe Kontrolle vorgegeben. Dass nun in den Lernzielen drei Ebenen nebeneinander stehen, ist eine enorme Herausforderung für die Lernenden. Selbst wenn durch gezielte Lernangebote für die zweite und dritte Ebene (Trainings in „Lernen lernen“ oder „Medienkunde“ o.ä.) eine gewisse Entzerrung denkbar ist, so müssen die drei Ebenen letztlich doch miteinander verwoben und in Gleichzeitigkeit gedacht werden. Im Sinne der Cognitive Load Theory kann die dreifache Belastung eine Überlastung des Lernenden darstellen. Wer schon einmal neue Methoden oder neue Medien im Unterricht eingesetzt hat, weiß das aus dem Alltag: Auch diese (vermeintliche) Meta-Ebene braucht zusätzlich Energie und Zeit.

VI.    Tastende Schritte in die Digitale Gesellschaft

Wie sehen mögliche Antworten auf diese Herausforderung aus? Zunächst müssen wir akzeptieren, dass fertige Rezepte oft noch fehlen. Das liegt nicht daran, dass diese erst entdeckt, aufgeschrieben und verbreitet werden müssen. Vielmehr fehlen sie wirklich. Wir haben keine Erfahrungen damit, wie wir konzentriert arbeiten können, wenn unser Arbeitsgerät alle ablenkenden Möglichkeiten dieser Welt genauso nahe bereitstellt wie die nächsten Arbeitsschritte. Wir üben noch, wie wir im digitalen Raum ein Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz, Privatsphäre und Öffentlichkeit, Überwachung und Komfort halten können. Antworten und Regeln müssen wir sowohl in der Gesellschaft wie auch in der Schule aushandeln, vereinbaren, wir müssen uns austauschen, neue Regeln aufstellen und gegebenenfalls auch wieder umwerfen.

Der Königsweg wird sein, die drei Ebenen von Fach-, Lern- und Medienkompetenz gemeinsam zu bearbeiten. Sie sind nur künstlich und unter großen Einbußen trennbar – denn Medien sind eben gerade das: verbindend. Gerade in der Verbindung der Ebenen steckt das Potential – sonst würden wir gar nicht darüber reden.

Foto „Sprachkabinett“ von Eugen Nosko, Deutsche Fotothek unter CC-BY-SA-3.0-de via Wikimedia Commons.

Foto „Sprachkabinett“ von Eugen Nosko, Deutsche Fotothek unter CC-BY-SA-3.0-de via Wikimedia Commons.

Dabei muss hier noch erwähnt werden, dass die produktive Neuausrichtung von Lernen im Angesicht der Digitalen Gesellschaft nur eine Möglichkeit unter verschiedenen Zukünften ist. Die Digitalisierung kann genauso gut zu einer Zementierung der „alten Schule“ führen. Man kann mit digitaler Technik altmodische Pädagogik betreiben. Die digitalen Medien eignen sich bestens, um zwar individualisiert, aber in einer engstens kontrollierten Umgebung zu lernen. Die Digitale Gesellschaft kann für die Schule auch die Wiederbelebung und Optimierung der Didaktik des Sprachlabors dienen, in dem der Input programm-gesteuert auf jeden einzelnen Lernenden angepasst wird, Lernfortschritte ständig gemessen und entsprechend bewertet werden können. Entsprechende Bestandsaufnahmen und Zukunftszenarien finden sich bei Lindner 2014 und Watters 2014.

VII.    Schritte in die Digitale Gesellschaft

Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen bleibt die Frage offen, wie eine Schule oder eine einzelne Lehrkraft konkrete Schritte hinein in die Digitale Gesellschaft unternehmen kann. Glücklicherweise hat die Avantgarde das Feld bereits erkundet. Aus ihrer Erfahrung sind im Folgenden einige Fragmente und Ideen skizziert.

Unterrichtsmaterialien

Bewährt sind für den Einstieg klassische Unterrichtseinheiten, die digitale Themen in die analoge Schule bringen. In der Regel wird hier Medienkunde auf der Meta-Ebene betrieben, wobei häufig Aufklärung vor Gefahren und Einüben von Schutzmöglichkeiten im Vordergrund stehen. Aber auch die kreative und kollaborative Nutzung digitaler Medien und die Reflexion der eigenen Nutzung werden thematisiert. Als Beispiele seien die Materialien auf klicksafe.de sowie medien-in-die-schule.de genannt.

Digitale Welten sind Lebenswelten

Schule lässt sich unterschiedlich stark auf die Lebenswelten von Schüler/innen ein. Das ist nicht unbedingt der Regelfall, aber es gibt dafür Zeiten und Räume wie den Morgenkreis, Freie Stillarbeit oder selbstgewählte Projektarbeit. Dem Hörensagen nach gibt es Lehrkräfte, die hierbei Themen aus digitalen Welten explizit ausschließen. Doch gerade Computerspiele, Videos auf YouTube, Stress in Sozialen Netzwerken oder Selbst-Inszenierung auf Instagram sind zentrale Themen aus der jugendlichen Lebenswelt. Lehrkräfte sollten die Thematisierung und damit die Reflexion und Diskussion digitaler Welten ermuntern (bzw. zumindest zulassen).

Projektarbeit

Wie so häufig bilden Projektphasen eine Chance, die üblichen Einschränkungen des Schulalltags aufzuheben. Gerade wenn man an der Lebenswelt der Schüler/innen ansetzt und darauf setzt, voneinander und miteinander zu lernen, bietet die Arbeit in Projekten die Chance für einen Einstieg in die Digitale Gesellschaft. Anregungen für die Projektarbeit mit digitalen Medien bietet beispielsweise der Medienpädagogik-Praxisblog.

BYOD

Das Konzept „Bring Your Own Device“ (BYOD) gewinnt für die digitale Ausstattung von Schulen rasant an Bedeutung. Alle Lehrer/innen und Schüler/innen bringen einfach die eigenen Smartphones, Tablets oder Laptops mit, die sie ohnehin schon besitzen. So einfach ist das in der Praxis natürlich nicht. Einen Einstieg in das Thema bietet die Sammlung von kurzen Videos „Die 10 wichtigsten Antworten zu Bring-Your-Own-Device (BYOD)“ mit Expert/innen aus Schule, Verwaltung und Wissenschaft (Fabri, Kolkmann, Moje, Muuß-Merholz 2014).

Medienmentoren

Verschiedene Bundesländer haben inzwischen Programme für Medienscouts oder Medienmentoren initiiert, bei denen Schulen auch außerhalb dieser Länder Anregungen finden können. Ausgangspunkt ist die Idee, dass Jugendliche als Expert/innen für Medienfragen eine Ausbildung erhalten, die ihnen dabei hilft, im Sinne von Peer Education andere Jugendliche in diesen Fragen zu unterstützen. Einen Eindruck vermittelt das hessische Programm „Digitale Helden“, das Lehrkräfte und Schüler/innen gemeinsam fortbildet (Muuß-Merholz 2014).

Gemeinsame Fortbildungen

In der Schule kann die Vielfalt der Kompetenzen von Lehrkräften und Schüler/innen genutzt werden, um mit- und voneinander zu lernen. Das können klassische schulinterne Fortbildungen sein, in denen Schüler/innen als Expert/innen die Lehrkräfte z.B. beim Umgang mit Computerprogrammen coachen. Das Voneinander-Lernen kommt stärker zum Tragen, wenn es um gemeinsame Workshops und Diskussionsrunden zu Themen der Digitalen Gesellschaft geht, bei denen Lehrkräfte und Schüler/innen gemeinsam das neue Terrain erkunden und reflektieren. Ein fortgeschrittenes, aber bestechend einfaches Format ist das Barcamp, auch Unkonferenz genannt. Erfahrungen zu Barcamps in der Schule finden sich z.B. bei Schaumburg (2010) oder Groß (2014).

Anregungen für groß angelegte gemeinsame Fortbildungen kommen aus Indonesien. Zur Einführung einer Software zur Erstellung digitaler Unterrichtsmaterialien wurde hier eine Fortbildung angeboten, zu der sich Lehrkräfte nur im Tandem anmelden konnten – gemeinsam mit einer Schülerin / einem Schüler. Den Berichten zufolge ergänzten sich die technische Expertise auf Schülerseite bestens mit der didaktischen Expertise der Lehrkraft.

Digitales Kompetenzzentrum (DKZ)

Zum Abschluss sei hier noch eine Idee skizziert, die verschiedene Aspekte der zuvor genannten Ansätze aufgreift und zusammenfügt: ein „Digitales Kompetenzzentrum“ (DKZ oder DiKoZ) für eine bzw. in einer Schule. Hier geht es nicht etwa in erster Linie um technische, sondern um medienpädagogische Fragen oder noch weiter gefasst: um Fragen der Digitalen Gesellschaft.

Ausgangspunkt ist die Einrichtung einer permanenten AG in einer Schule, die für Schüler/innen und Lehrkräfte gleichermaßen offen ist. Hier tauscht man nicht nur Erfahrungen, Tipps und Tricks aus, sondern organisiert z.B. Vortragsveranstaltungen (auch) für Eltern, schulinterne Fortbildungen, offene Sprechstunden für Lehrkräfte und Schüler/innen, Schul-BarCamps, LAN-Partys etc. Gerade durch die Vermischung von individuellen Fragen, Schulthemen und gesellschaftlichen Aspekten wird man der Allgegenwärtigkeit und Vernetzung der Digitalen Gesellschaft gerecht.

Selbstverständlich können dabei auch medientechnische Fragen eine Rolle spielen. Man muss nur aufpassen, das DKZ nicht auf die Funktion zu reduzieren, dass eine Schülertruppe bei Problemen mit Whiteboards und Beamern schnell und billig helfen kann. Der zentrale Gedanke hinter dem DKZ: Auch und gerade in der Schule müssen wir auf Mit- und Voneinander-Lernen, gemeinsame Verständigungsprozesse, Reflexion und Dialog setzen, um in der Digitalen Gesellschaft als gestaltende und nicht als getriebene Akteure zu handeln.

Links und Literatur

Groß, T.: AbiCamp 2014 – kleiner Stein, weite(re) Kreise. Auf: Idealismus trotz Bildungskultur. Ideen und konkrete Anregungen rund um die Schulmatrix, 2014. http://paradigmagnus.wordpress.com/2014/02/16/abicamp-2014-kleiner-stein-weitere-kreise/ [zuletzt geprüft: 2014-11-16]

Foucault, M.: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, 1976.

Harry Potter Wiki (: Hermines Perlenhandtäschchen. Stand vom 2014-11-16. http://de.harry-potter.wikia.com/wiki/Hermines_Perlenhandt%C3%A4schchen [zuletzt geprüft: 2014-11-16]

Chandler, P. & Sweller, J.. Cognitive load theory and the format of instruction. Cognition and Instruction. 8(4), 293-332, 1991.

Fabri, B., Kolkmann, M., Moje, T., Muuß-Merholz, J.: (Hrsg.): Die 10 wichtigsten Antworten zu Bring-Your-Own-Device (BYOD). Videostatements auf pb21.de, 2014. http://pb21.de/2014/10/die-10-wichtigsten-fragen-zu-bring-device-byod-2/ [zuletzt geprüft: 2014-11-17]

Lindner, M.: Bildung 2025: Vier düstere Szenarien (und ein kleiner Lichtblick) – Lernen im digitalen Klimawandel – Teil V. Artikel auf pb21.de, 2014. [zuletzt geprüft: 2014-11-17]

Muuß-Merholz, J.: Schule und Web 2.0 – Wie Social Media die schulische Kommunikation durcheinander wirbelt. In: G. Regenthal; J. Schütte: Handbuch Öffentlichkeitsarbeit macht Schule. Verlag Carl Link / Wolters Kluwer Deutschland, 2012. http://www.joeran.de/social-media-schule/ [zuletzt geprüft: 2014-11-16]

Muuß-Merholz, J.: Digitale Helden – Medienpädagogische Beratung durch Peers. Aufzeichnung eines Online-Vortrags mit Florian Borns, Max Atta und Marlene Knapp auf pb21.de, 2014. http://pb21.de/2014/11/digitale-helden/ [zuletzt geprüft: 2014-11-16]

Schaumburg, F.: „BarCamp“ trifft Schule. Auf: EduShift. Laut gedacht …, 2010. http://www.edushift.de/2010/10/03/barcamp-trifft-schule/ [zuletzt geprüft: 2014-11-16]

Schleicher, A.: Educating for the 21st Century. Video und Transkript bei Big Think, 2014. http://bigthink.com/big-think-gesf/educating-for-the-21st-century [zuletzt geprüft: 2014-11-16]

Wampfler, P.: Facebook, Wikis und Blogs in der Schule. Ein Social-Media-Leitfaden. Vandenhoeck & Ruprecht, 2013

Watters, A.: The Future of Education: Programmed or Programmable. Transkript zum Vortrag an der Pepperdine University am 4.11.2014. http://www.hackeducation.com/2014/11/04/programmed-instruction-versus-the-programmable-web/ [zuletzt geprüft: 2014-11-16]

Weiterführende Links:

  • www.klicksafe.de – Informationen und Unterrichtsmaterial im Rahmen des Safer Internet Programmes der Europäischen Union
  • www.medienpaedagogik-praxis.de – Medienpädagogik Praxisblog mit Materialien, Methoden, Projektbeispiele, Tipps, Tricks und aktuelle Informationen für die medienpädagogische Praxis in Jugendarbeit und Schule. Herausgegeben von Eike Rösch und Tobias Albers-Heinemann
  • www.medien-in-die-schule.de – Unterrichtseinheiten zu sechs Themenbereich der Digitalen Gesellschaft, herausgegeben von FSM, FSF und Google

Wie wir mit Begeisterung das totalüberwachte Bildungssystem einführen werden

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Vortragsvideo von der re:publica in Berlin vom 6.5.2015


Wie wir mit Begeisterung das totalüberwachte Bildungssystem einführten – eine Rückschau auf die Jahre 2015 bis 2025“ war der Titel meines Vortrags auf der re:publica 2015. Der Text aus der Ankündigung steht unten nochmal. Außerdem habe ich einige Rückmeldungen zusammengetragen (und teilweise zurückkommentiert).


Danke für die wunderbare Ankündigung meines Talks, liebe Tanja!


Ich danke Rüdiger Fries für zahlreiche sachdienliche Hinweise, die mir bei der Vorbereitung sehr geholfen haben.


Der Hut ist zwar toll, der Witz dahinter war allerdings ohne Erklärung kaum zu verstehen. Schließlich sollte die Mütze aus der Gegenwart, nicht aus der Zukunft stammen. Und: Satire sollte das auch nicht sein.


Das kann man nochmal unterstreichen. Fridtjof Küchemann, @FKuechemann, Redakteur im Feuilleton der FAZ ist der einzige Journalist, der am Thema dran ist. Siehe z.B. „Bildungsdaten sind Treibstoff für die Helikoptereltern“.


Der Tweet von @computerkind ist eigentlich mein liebster, weil er meine Idee hinter dem Vortrag auf den Punkt bringt.

Blog-Artikel zur relearn gab es (noch?) nicht so viele. Tobias Hübner gibt einen guten Überblick mit vielen eingebauten Videos. Außerdem benennt er die Parallelen zu Dave Eggers „The Circle“, die tatsächlich einen großen Anteil an meinem Vortrag haben. Im Blog der Stadtbibliothek Köln steht zunächst, mein Vortrag war „eine doch recht haarsträubende (weil pessimistische) Timeline“, man bilanziert am Ende aber: „Bleibt abzuwarten, ob sich diese Dystopie erfüllt. Allzu unrealistisch scheint es sowohl den Vortragenden als auch uns nicht.“


Wie wir mit Begeisterung das totalüberwachte Bildungssystem einführten – eine Rückschau auf die Jahre 2015 bis 2025

Vortrag auf der re:publica 2015 im Mai in Berlin

nach oben zum Video
Das Bildungssystem war spät dran, als die Bundesregierung ihre „Strategie Digitale Bildung“ veröffentlichte, damals in 2015. So gut wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche waren schon vom Digitalen Wandel erfasst worden. Viele Menschen hatten gedacht, dass die Schule immun gegenüber Veränderungen sei. Handyverbote und gesperrte Netze hatten zumindest bis 2016 den Eindruck erweckt, man könne so weitermachen wie bisher. Aber dann war ein Tipping Point erreicht, von dem aus sich die Dinge überschlugen. Angetrieben wurde die Entwicklung von unten, über die privaten Geräte, die die Schüler/innen ungefragt mit in die Schulen brachten. Man versuchte 2016 zwar noch, die Smartwatches und später die Brillen-Cams genau wie vorher Handys aus den Schulen auszusperren. Aber das kippte endgültig im September 2016 mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das der Schülerin Yasmin K. das Tragen eines Multifunktionsarmbands gemeinsam mit einem unsichtbaren Funk-Hörimplantat aus gesundheitlichen Gründen erlaubte. Die Politik trat die Flucht nach vorne an. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Frühjahr 2017 löste Schwarz-Grün umgehend das gemeinsame Wahlversprechen ein, flächendeckend jede/r Schüler/in ein digitales Endgerät im Schulalltag nutzen zu lassen. Andere Bundesländer zogen nach – bis zum Großen Crash 2020. Als 13 von 16 Bundesländern kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stande, sagte der Bund Unterstützung zu. Die Bundesländer mussten dafür eine De-Facto-Zentralisierung der Schulpolitik zulassen. Das stärkste Argument der Befürworter zog: Nachdem 16 Bundesländer 16 inkompatible Lernplattformen aufgebaut hatten, bedeutete ein Umzug für die Schüler meist einen Verlust des eigenen Lernportfolios und der Datenprofile. Eine Zentralisierung war unvermeidlich geworden.

Und das war erst der Anfang. Heute im Jahr 2025 können wir rückblickend sagen: Jeder Schritt war willkommen. Es gab nie einen Bösen. Alle wollten immer nur das Beste. Und trotzdem (oder deswegen?) haben wir heute ein totalüberwachtes und umfassend kontrolliertes System im Bildungsbereich etabliert, das jedes Blinzeln jedes Lernenden registriert und auswertet.

Wie konnte es dazu kommen? Der Vortrag sucht Antworten in einer chronologischen Rückschau auf die konkreten Entwicklungen von 2015 bis 2025.

Ich sage jetzt auch „Digitale Bildung“ und „Digitale Schule“ und „Digitales Lernen“. Obwohl es ja Quatsch ist.

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digitale Bildung, digitales Lernen, digitale SchuleIch habe mich lange gewehrt, die Begriffe „Digitale Bildung“ oder „Digitales Lernen“ oder „Digitale Schule“ zu benutzen, wie sie gerne für Tagungen oder in Massenmedien genutzt werden. Zum einen sind die Begriffe natürlich Unsinn, weil Bildung, Lernen und Schule selbst ja nicht digitalisiert werden, sondern nur Teile der Informationen und der Kommunikationen, die sie ausmachen. Zum anderen suggeriert die Verkürzung immer die Dominanz von #digital gegenüber Bildung, Lernen oder Schule.

Ich habe diesen Widerstand jetzt aufgegeben. Zum einen aus pragmatischen Gründen. Es ist einfach unpraktisch, stattdessen immer „Schule (oder Lernen oder Bildung) unter den Bedingungen einer Gesellschaft, deren Wandel maßgeblich von Digitalisierung, Vernetzung und Miniaturisierung geprägt wird“ zu sagen. Ich sage als Verkürzung immer noch gerne „Schule im digitalen Wandel“ oder „Lernen im digitalen Wandel“. In meiner Materialsammlung auf diigo habe ich seit Jahren das Schlagwort relearn benutzt. Aber z.B. auf Twitter hilft das auch nichts, denn um Teil der Debatte zu sein, muss man gängige Hashtags wie #digitaleBildung benutzen.

Die Österreicher sind da irgendwie pragmatischer. Sie sagen einfach „elearning“ zu allem, was ein digitales Gerät beinhaltet, selbst wenn jemand im Schulunterricht eine Vokabel nachschlägt. In Deutschland funktioniert das nicht, weil man bei „elearning“ hier ein Setting vor Augen hat, in dem man nicht gemeinsam in einem Raum sitzt.

Also versuche ich mich mal in Pragmatismus und sage jetzt (zumindest auf Twitter) „Digitale Bildung“ oder „Digitales Lernen“ oder „Digitale Schule“.

Und? Wie macht Ihr das so?

Microsoft soll in Sachsen-Anhalt eine Schulcloud aufbauen

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Oder: Sachsen-Anhalt vertraut das Rückgrat seiner Schulen Microsoft an.

von Jochen Jansen (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) oder GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

Foto „Hinweisschild A 2 Landesgrenze Sachsen-Anhalt (2009)“ (zugeschnitten) von Jochen Jansen unter CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Sachsen-Anhalt will vorangehen und eine zentrale Schulcloud aufbauen, in der perspektivisch alle Daten von allen Lehrkräften und Schüler/innen des Landes gespeichert sind. Dafür setzt man auf Infrastruktur von Microsoft. Und Anwendungen von Microsoft. Die Umsetzung soll Microsoft übernehmen. Und um die Fortbildung für die Lehrkräfte kümmert sich wer? Microsoft. Der Kultusminister wurde übrigens vorher nicht gefragt.

Soweit die Kurzfassung. Ausführlicher stellt es die Journalistin Mandy Ganske-Zapf in einem Artikel „Digitale Bildung: Sachsen-Anhalt will mit Microsoft kooperieren“ bei den Netzpiloten dar. Ich werde dort unter anderem wie folgt zitiert: „Das ist ein relativ bedrohliches Szenario. Microsoft sitzt am Anfang und am Ende dieser Kette.“ Tatsächlich denke ich, dass die allermeisten Akteure gar nicht absehen, wie mächtig diese Grundsatzentscheidung ist. Es geht hier um die Infrastruktur für Arbeit und Leben von Hunderttausenden von Schüler/innen und Lehrkräften für die Zukunft. Im Zweifelsfall werden hier mittelfristig alle Aktivitäten aufgezeichnet, gespeichert und ausgewertet werden können.

In der öffentlichen Debatte gehen dabei drei Punkte durcheinander, die man voneinander trennen sollte:
1. das politische Prozedere,
2. das „kostenlose Office“,
3. die Infrastruktur-Frage.

zu 1) Offenbar hat das Finanzministerium im Alleingang gehandelt, ohne das für Schule zuständige Kultusministerium auch nur zu beteiligen.

Die lokale Presse berichtet von einem „tiefen Graben“ zwischen den beiden zuständigen Ministern (beide SPD). Auch die schematische Darstellung auf S. 5 im Letter of Intent zwischen Microsoft und Sachsen-Anhalt spricht Bände: Schüler, Lehrkräfte und Haushalte (!) stehen ganz unten, während über allem das Finanz(!)ministerium thront.

Abbildung auf S. 5 im Letter of Intent zwischen Microsoft und Sachsen-Anhalt

Abbildung auf S. 5 im Letter of Intent zwischen Microsoft und Sachsen-Anhalt

zu 2) Das „kostenlose Office für alle“ ist weder kostenlos noch besonders bemerkenswert.

Besonders beliebt ist in den Medien das Kapitel, das ein (vermeintlich) kostenloses Office 365 für alle Lehrkräfte und Schüler verspricht. Dazu muss man zweierlei Dinge anmerken: 1. So aufregend ist das gar nicht. Pauschalvereinbarungen sind im Office-Bereich alles andere als neu. 2. Man kann wohl davon ausgehen, dass die Lizenzen gar nicht „kostenlos“ sind, sondern das Land für einen Rahmenvertragen einen (vielleicht auch gar nicht so kleinen?) Betrag dafür bezahlen wird.

Foto „IVP Duplication“ von Morning2k unter CC BY SA 3.0 via Wikimedia Commons

Rückgrat, sichtbar gemacht (Foto „IVP Duplication“ von Morning2k unter CC BY SA 3.0 via Wikimedia Commons)

zu 3) Sachsen-Anhalt vertraut das digitale Rückgrat seiner Schulen Microsoft an.

Gleich der erste Satz im Letter of Intent bringt die Sache auf den Punkt. Es geht um „eine digitale Anwendungs- und Infrastruktur, die alle Bereiche des Lebens und Arbeitens zusammenschließt“ (Hervorhebung von mir). Auf Seite 4 ist davon zu lesen, dass es hier um das „digitale Rückgrat“ der Schulen geht. Die Metapher vom Rückgrat ist toll, das könnte man sich nicht besser ausdenken. Ein Rückgrat ist elementar wichtig für alle Funktionen des Körpers. Ein Rückgrat ist quasi nie Thema, solange alles gut funktioniert. Ein Problem mit dem Rückgrat kann den ganzen Körper lahm legen. Oder kurz: Wer das Rückgrat kontrolliert, kontrolliert den ganzen Körper.

Und Sachsen-Anhalt vertraut dieses Rückhgrat nun einem Unternehmen an, dessen Software wir nicht einsehen können und das nicht gerade durch Zurückhaltung in NSA-Totalüberwachung aufgefallen ist. Es geht mir allerdings gar nicht so sehr um Microsoft als Unternehmen. Andere Unternehmen sind manchmal besser, manchmal schlimmer. Es geht um die Grundsatzentscheidung: Der Staat gibt seine Souveränität auf und liefert nicht nur sein eigenes, sondern auch das digitale Rückgrat von Zehntausenden Mitarbeitern und von Hunderttausenden Kindern und Jugendlichen an ein einzelnes Unternehmen aus, dessen Arbeit nicht kontrollierbar ist.

Ein Kanon für digitale Fachdidaktik?

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Thomas Narosy (2015) Auf dem Weg zur digital-inklusiven Fachdidaktik, S 7

Abbildung kopiert aus dem Artikel von Thomas Narosy (siehe ganz unten)

Es braucht als Minimum einen verpflichtenden Kanon von digitalen Werkzeugen und Medien für jedes Schulfach!

So lassen sich die Thesen von Thomas Nárosy zuspitzen, die er in dem Aufsatz „Auf dem Weg zur „digital-inklusiven“ Fachdidaktik: Eine Einladung zum Diskurs“ (pdf, S. 4 –8) skizziert. Nárosys Überlegungen:

  • Es reicht nicht aus, alles Digitale in der Schule nur in einem fächerunabhängigen Lernbereich „Digitale Kompetenzen“ o.ä. zu verorten.
  • Es reicht nicht aus, darauf zu hoffen, dass Schüler durch Glück einer Lehrkraft begegnen, die digitale Medien selbstverständlich integriert.
  • Also müssen wir ein Minimum definieren, quasi einen Kanon, ohne den „man sich ernsthaft den Vorwurf gefallen lassen müsste, seinen ‚Job‘ im Interesse der SchülerInnen und ihres Lernens weniger gut als möglich zu erledigen […]“ [im Original mit Fragezeichen am Satzende]

Digital-inklusive Fachdidaktik

Nárosy nennt seinen Ansatz „digital-inklusive Fachdidaktik“ (und freut sich über Vorschläge für bessere Bezeichnungen). Mit einer Seminargruppe hat er eine vorläufige Aufstellung erarbeitet, wie ein solcher Kanon (als Momentaufnahme) für die Fächer Deutsch, Mathe, Geografie und Wirtschaftskunde, Physik, Bildnerische Erziehung, Musikerziehung sowie Bewegung und Sport aussehen könnte. Dabei unterscheidet er:

„1. In jedem Fach gibt es in der Regel sehr spezifische digitale Medien und Werkzeuge, die – aus der Mitte des Faches und seiner Didaktik kommend! – dieses besser unterrichten und erlernen lassen. […]
2. Fachdurchgängig gibt es Software wie LearningApps, Erklärvideos bzw. Suchmaschinen und Enzyklopädien, die je fachspezifische Inhalte sowie Lern- und Übungsmöglichkeiten bieten.“

Die Grafik dazu steht oben.

Fragen

Was hält wer davon?

Gibt es vergleichbare Ansätze, zumindest in einzelnen Fachdidaktiken?

Weiterlesen

Nochmal der Link zum Aufsatz: Newsletter des Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung (IUS) der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (pdf, S. 4 –8). Ich habe Thomas Nárosys Thesen bei den EduDays 2015 kennengelernt. Das Video zu seinem Vortrag dort steht unten, die Folien gibt es hier drüben.

Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis

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Präparation Schweineherz (Screenshot aus YouTube-Video)

Präparation Schweineherz (Screenshot aus einem YouTube-Video der Realschule Europakanal Erlangen)

Wie genau sieht es eigentlich aus, wenn digitale Medien im Unterricht eingesetzt werden, um Schülern individuelles Lernen zu ermöglichen? Zu dieser Frage habe ich im Sommer 2015 mit zehn Lehrerinnen und Lehrern gesprochen und sie ihren Unterricht beschreiben lassen. Die Ergebnisse sind in zehn Artikeln nachzulesen, die Unterrichtsbeispiele und die didaktisch-methodischen Überlegungen dahinter vorstellen. Als nicht unerwünschte Nebenwirkungen sind damit gleichzeitig Porträts von zehn Menschen entstanden, die ich für großartigen Pädagoginnen und Pädagogen halte.

Alle Texte werden im Volltext hier im Blog veröffentlicht.

Die Arbeit war Teil eines umfangreichens Projektes der Bertelsmann Stiftung. Neben den Fallsbeispielen wurden drei Studien erstellt, die allesamt im Volltext bei der Bertelsmann Stiftung heruntergeladen werden können. Ich danke Christian Ebel von der Bertelsmann Stiftung für die gute Zusammenarbeit! Und ich danke den zehn Lehrerinnen und Lehrern, die viel Zeit in die Gespräche mit mir gesteckt haben!

Zehn Lehrkräfte von der Nordseeinsel bis zur Schweiz

Zehn Beispiele können keinen Anspruch auf Vollständigkeit geben. Aber anders herum gilt: Schon zehn Beispiele zeigen, wie groß die Vielfalt ist, mit der digitale Medien im Unterricht eingesetzt werden können.

  1. Das erste Beispiel führt in eine Realschule nach Bayern, wo Schulleiter Markus Bölling Unterricht zeigt, in denen 100 Prozent der Schüler aktiv sind. Wie genau das aussieht, zeigen Beispiele aus den Fächern Biologie, Mathe, Englisch und Deutsch.
  2. Von Bayern springen wir zur Insel Langeoog, auf der es insgesamt 48 Schüler im Grundschulalter gibt. Ihre Lehrerin Christiane Schicke macht deutlich, dass digitale Medien nicht „nur ein Werkzeug“ sind: „Wir können damit buchstäblich die Welt auf unsere Insel und in unsere Klasse holen.“
  3. In Hamburg arbeitet Lisa Rosa, die mit verschiedenen Schulen groß angelegte Blogprojekte durchgeführt hat, zum Beispiel zur KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Rosa argumentiert gegen die in Schulen verbreitete Filtersoftware und für eine Ersetzung des Begriffs „Individualisierung“ durch „Personalisierung“ des Lernens.
  4. „Digitale Medien helfen nicht bei der Individualisierung – sie ermöglichen die konsequente Individualisierung erst!“ Das sagt Daniel Bernsen, Lehrer für Geschichte, Französisch, Spanisch an einem Gymnasium in Koblenz. Seine Beispiele zeigen, dass Geschichte und Medienbildung vieles gemeinsam haben.
  5. Wenn Monika Heusinger Spanisch und Französisch in Saarbrücken unterrichtet, dann setzt sie konsequent auf digitale Medien. Die Digitalisierung steigert Effizienz, Authentizität und nicht zuletzt die Motivation der Schüler: „Das ist ihr natürlicher Weg, den sie auch zu Hause gehen, wenn sie Informationen suchen. Das fördert die Motivation enorm!“
  6. Achim Lebert ist Schulleiter in München. Er ist selbst unter den Pionieren ein alter Hase. „Im Jahr 2001 unterrichtete ich das erste Mal in einer Notebookklasse. Nach einem Jahr hielt ich diese Form des Arbeitens für absoluten Unsinn. Heute ist das Arbeiten in solchen Klassen für mich zur Selbstverständlichkeit geworden. Das Unterrichten in alten Formen fällt mir zunehmend schwer.“
  7. In Wuppertal besuchen wir eine neugegründete Gesamtschule und sprechen mit Lehrer Felix Schaumburg. Er setzt auf das „Universalwerkzeug Tablet“, mit dem er eine große Ausweitung von Themen und Lernwegen ermöglicht: „Ich habe alles zur Verfügung und kaum noch Limitierungen.“
  8. Zwei konkrete Projekte stehen im Zentrum des Fallbeispiels von Mandy Schütze, Lehrerin im fränkischen Gerabronn. Mit einem „Ethik-Blog“ und einem „Geographie-Wiki“ arbeitet sie an Möglichkeiten, mit denen Schulklassen ihre Arbeit nicht mehr in 28 getrennten Schulheften, sondern gemeinsam dokumentieren.
  9. Ein Beispiel aus der Beruflichen Bildung kommt aus Kassel, wo Heinz Dieter Hirth die Selbstorganisation der Lernenden auf die Spitze treibt. Für ihn ist die Didaktik auch eine Frage von Mündigkeit: „Die Lernenden müssen erstmal ihre Konsumhaltung ablegen. Sie sollen ihren Lernprozess aktiv gestalten. Sie müssen ‚Prosumenten’ werden.“
  10. Im letzten Beispiel schauen wir auf die Arbeit von Philippe Wampfler, der Deutsch und Philosophie in der Schweiz unterrichtet. Für Wampfler steht das Schreiben im Mittelpunkt: „Wichtig ist mir, dass die Schüler überhaupt schreiben. Sie sollen viel schreiben – mehr als ich jemals korrigieren kann!“

Die Fallbeispiele im Volltext

(Die Artikel werden nach und nach ergänzt, von hinten nach vorne.)

Hauptsache Schreiben! – Digitale Medien im Unterricht von Philippe Wampfler

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Foto: Philippe Wampfler; Quelle: Miguel Kratzer für Watson (Bild nicht unter freier Lizenz)

Philippe Wampfler (Foto von Miguel Kratzer für Watson; nicht unter freier Lizenz)

Medienwechsel von Theater auf Twitter

„Kann ich mein Leben mal kurz speichern und was ausprobieren?“, schreibt Pawel Iwanow auf Twitter, wo er @iwanarchy heißt. Tobias @svenlieblingsm verkündet daneben: „Gerade die beste Pizza meines Lebens gegessen @CasaMiaGroup“.


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


Tweets

Tweet (steht nicht unter einer freien Lizenz)

Noch ein Tweet (steht auch nicht unter einer freien Lizenz)

In der Kantonsschule Wettingen im Aargau twittern Schüler im Deutschunterricht. Nicht etwa unter dem Tisch, sondern vom Lehrer gefordert, in Gruppenarbeiten diskutiert und didaktisch eingebunden. Deutschlehrer Philippe Wampfler nutzt Twitter zum Beispiel in der Lektürearbeit, um über Figuren und Situationen im Stück zu sprechen. Er fragt die Schüler: „Wenn diese Person auf Twitter wäre, was würde sie an dieser Stelle schreiben? Was wäre ein zentrales Zitat für diese Figur? Was denkt sie gerade?“

Eine Einführung in Twitter muss Wampfler für die Schüler nicht machen. „Die Hälfte kennt Twitter, die andere Hälfte noch nicht. Also setzen die Schüler sich rasch zusammen und erklären sich gegenseitig die Funktionen.“

Das Twitterprojekt wird in einer aufwändigeren Form fortgesetzt. Wampfler hat das mit dem Theaterstück „Lieblingsmenschen“ von Laura de Weck erprobt. „Wir machen das als Gruppenarbeit. Jede Rolle im Stück wird einer Gruppe zugeteilt und von ihr mit einem eigenen Twitterprofil vertreten. Zunächst muss sich jede Gruppe überlegen, wie sich ihre Figur auf Twitter selbst darstellt. Dann geht es darum, dass Stück in einer Fassung 2.0 fortzusetzen. Die Gruppen schreiben den Text weiter, mit einem Medienwechsel von Theater auf Twitter.“

Wo manche Deutschlehrer unüberbrückbare Kluften zwischen Diogenes-Verlag und amerikanischem Unternehmen, zwischen analog und digital, zwischen dekorierter Literatur und kurzen Tweets sehen würde, findet Wampfler die Gemeinsamkeiten: „Es geht um Kommunikation zwischen Menschen. Um Beziehungen. Und darum, dass die Schüler schreiben.“

„Plaudern über Unterricht“

„Hauptsache schreiben!“ – Das ist ein Hauptmotiv im Unterricht von Philippe Wampfler. Und in seinem Leben.

Wampfler ist auch persönlich auf Twitter und in Blogs aktiv. Wenn er dort seine Überlegungen zu Lernen, Schule und digitalen Medien teilt, verfolgen das vereinzelt auch Schüler. „Manche kommentieren das im Netz. Dort entsteht dann ein informelles Plaudern über Unterricht. Formale Bildung und informelle Diskussionen gehen ineinander über.“

Meist sind es nicht Schüler, sondern andere Lehrende, die mit Wampfler diskutieren. Digitale Medien sind für ihn nicht nur ein Werkzeug. „Das Internet bedeutet für mich auch Zusammenarbeit, Austausch und das Knüpfen von Netzwerken. Diese Vernetzung ist sehr wertvoll. Das schafft eine Qualität, die vor zehn Jahren noch nicht da war.“

Wampfler ist vermutlich der produktivste und einflussreichste Lehrer im deutschsprachigen Raum, wenn es um grundsätzliche Überlegungen zu Bildung in Zeiten des digitalen Wandels geht. Neben der Schule, diversen Aus- und Fortbildungstätigkeiten und seinen Blogs hat er in den letzten Jahren auch zwei Bücher veröffentlicht: eines über Social Media in der Schule und eines über digitale Jugendkultur.[1] Es scheint, Wampfler kann nicht ohne Schreiben.

Kollaborative Textarbeit mit Google Docs

Als Werkzeug für das Schreiben setzt Wampfler oft Google Docs ein, so dass Schüler gemeinsam an Texten arbeiten können. Die digitale und kollaborative Form des Schreibens entspricht für Wampfler Grundmustern von Lernen: „Entwerfen und überarbeiten, Feedback bekommen und diskutieren, verbessern oder auch verwerfen – so funktionieren Lernen und Unterricht doch oft. Das hat eine ganz starke pädagogische Qualität!“

Zu Beginn steht immer ein Musterbeispiel, bei der die Arbeitsweise wichtiger ist als der Inhalt. „Man muss erst einmal merken, wie das funktioniert, wenn 25 Menschen gleichzeitig in einem Dokument sind. Den Umgang mit den unterschiedlichen Ebenen von eigentlichem Text und der Kommunikation über Kommentare oder Chat muss man üben.“

Die Arbeit mit einem gemeinsamen Dokument bietet sich zum Beispiel an, wenn in 4er- oder 5er-Gruppen eine Zitaterörterung erstellt wird. Oder bei Texten, zu denen Feedback und Weiterentwicklung wichtig sind, wie in Wampflers Familienprojekt. „Die Schüler schreiben hier verschiedene Texte und bekommen jeweils Feedback von anderen Schülern. Dadurch entsteht eine hohe Individualisierung. Diese Peer-Kommunikation ist sehr wichtig.“ Im Projekt interviewt jeder Schüler ein Familienmitglied zur Geschichte der eigenen Familie. Zunächst wird dafür die Ausgangslage beschrieben: „Was weiß ich eigentlich schon.“ Schon zu diesem Text gibt es eine erste Feedback-Runde, bei der ein anderer Schüler den vorhandenen Entwurf kommentiert, der dann überarbeitet wird. Als nächstes wird die Liste von Fragen für das Interview entworfen, kommentiert, umgestellt und verbessert. Nach dem Interview wird die Tondatei transkribiert, so dass auch die Abschrift für Feedback und Weiterarbeit genutzt werden kann.

„Da stecken viele Dinge drin, die mit Papier und Stift nicht denkbar wären. Es ist nicht nur, dass Inhalte kontinuierlich verbessert werden können oder dass einfach mehrere Personen zur selben Zeit am selben Text arbeiten können“, findet Wampfler. „Es gibt auch die zusätzliche Dimension von Diskussionen über den Inhalt. Die Kommentarfunktion ist wie ein Gespräch über den Text. Für mich selbst ist gar keine Texterstellung ohne so eine Zusammenarbeit mehr denkbar.“

Die digitalen Dokumente ermöglichen darüber hinaus, dass die feedback-gebende Person sehen kann, was aus der Rückmeldung gemacht wird. Über die Versionsgeschichte sind alle Bearbeitungsschritte zu sehen. Die Entstehungsgeschichte eines Dokuments wird so nachvollziehbar und bietet eine Reflexionsgrundlage.

Schweizer Pragmatismus

Google Docs im Unterricht – das hat an Schulen in Deutschland Seltenheitswert, nicht zuletzt aus Gründen von Datenschutz und Bedenken gegenüber Google. „Die Rolle von Unternehmen und von Werbung ist mir unangenehm“, gibt Wampfler zu. „Das würde ich gerne ändern, wenn ich es könnte. Ich versuche mich an einem pragmatischen Umgang.“

Diesen Pragmatismus sieht Wampfler in der Schweiz deutlich stärker ausgeprägt als in Deutschland. „Juristische Bedenken gibt es hier selten. Man schaut sich das Problem an, wenn es auftritt. Aber erstmal macht man und probiert aus.“ Auch hinsichtlich der technischen Infrastruktur sieht Wampfler seine Schule gut aufgestellt. „Wir haben ein schnelles WLAN im ganzen Schulhaus. Und bei Schülern, die wir neu aufnehmen, können wir verlangen, dass sie ein Notebook mitbringen.“ Auch ein Tablet ist möglich – aber nur wenn es mit einer Tastatur erweitert wird, mit der man schnell und gut schreiben kann.

Persönliche Blogs über Hochzeiten und die Zigarettenindustrie

Um Schreiben und Austausch geht es Wampfler auch in den Blogs, die seine Schüler in der 10. Klasse im Deutschunterricht führen müssen. Als Hausaufgaben schreiben 25 Schüler in einem Schuljahr 500 Blogbeiträge und 1.000 Kommentare – in einem halben Jahr!

Die Aufgabenstellung ist einfach: Jeder startet ein eigenes Blog, in dem er zwischen August und Januar 20 Beiträge veröffentlichen muss. Außerdem muss er mindestens doppelt so viele Kommentare bei Blogs der Mitschüler hinterlassen.

In der Themenwahl sind die Schüler frei. Wampfler: „Es soll etwas mit ihrem Leben zu tun haben. Das müssen keine intimen Fragen sein. Wichtig ist mir, dass die Schüler überhaupt schreiben. Sie sollen viel schreiben – mehr als ich jemals korrigieren kann!“ Die Themen in den Blogs sind entsprechend bunt. Es geht um den eigenen Wellensittich, Angst vor Spinnen, Sojamilch, Hochzeiten, gelesene Bücher und gesehene Filme, aber immer wieder auch um größere Themen wie außerirdisches Leben, Zigarettenproduzenten, Microsoft oder anstehende Wahlen.

Schaut man in die Kommentare, so findet man viel Freundlichkeit, Lob und Anerkennung. Insbesondere bei meinungsstarken Beiträge gibt es auch längere Diskussionen. „Ich will, dass die Schüler dort miteinander ins Gespräch kommen“, sagt Philippe Wampfler. „Das gegenseitige Lesen und Reagieren ist Ansporn für die Schüler.“ Auch Lehrer Wampfler beteiligt sich immer wieder an den Kommentaren.

Eine große Einführung zu Beginn der Arbeiten mit Blogs braucht es nach Wampflers Erfahrung nicht. Die einschlägigen Dienste sind so intuitiv zu bedienen, dass er nicht einmal eine Plattform vorgibt. Wichtigere Inputs betreffen stattdessen Punkte wie die Verwendung von Fotos, Angaben von Quellen oder die Wahrung der Pseudonymität. Weitere Fragen ergeben sich im Laufe der Arbeit und werden durch kleine Lektionen zwischendurch bearbeitet: Wie wird mein Blog von Suchmaschinen gefunden? Wie kann ich einzelne Beiträge per Passwort schützen?

Auf Pseudonyme legt Wampfler besonderen Wert. „Was die Schüler in der 10. Klasse schreiben, soll sie später nicht ein Leben lang begleiten. Die Blogs sind öffentlich, aber nie unter dem echten Namen zu finden.“ Allerdings setzt ungefähr jeder vierte Schüler das Blog auch nach dem Halbjahr fort oder startet ein neues Blog. Wampfler hat dann sein Ziel erreicht: die Schüler schreiben, lesen und beteiligen sich am gesellschaftlichen Diskurs. In den Worten eines bloggenden Schülers ausgedrückt:

„Dieser Blog ist also für mich eine ganz neue Seite des Internets: Das erste Mal schreibe ich aktiv im Internet und theoretisch kann es auch jeder ansehen, lesen und dabei mitdiskutieren! Genau das ist ja auch der Unterschied zu einem herkömmlichen Schulaufsatz: Jeder, sogar Außenstehende, können den Blog lesen und ihren Kommentar hinterlassen. Das Bloggen ist also regelrecht eine neue Kommunikationsform“, bilanziert awinkler12 in der Schlussreflexion seines Blogs.

Benotung und Routinen

Die Blogs sind Teil der Hausaufgaben und werden benotet.  Bei der Bewertung ist Wampfler wichtig, dass nicht bei allen Inhalten immer die Benotung im Hinterkopf mitgedacht wird. Deswegen können Schüler dem Lehrer mitteilen, welche Artikel er für die Bewertung besonders oder auch gar nicht berücksichtigen soll.

Auch wenn die Arbeit in den Blogs zu Hause stattfindet, ist eine Verankerung in den Unterrichtsstunden wichtig. Wampfler legt dafür immer wieder „Zwischenstationen“ fest – Termine, zu denen eine bestimmte Anzahl von Artikel geschrieben sein muss. An diesen Terminen werden Artikel und Kommentare im Unterricht angeschaut und besprochen, Erfahrungen ausgetauscht und Fragen diskutiert.

Routinen helfen in der ansonsten zeitlich und thematisch frei zu gestaltenden Arbeit. „Man denkt bei digital ja immer, dass alle arbeiten können, wann und wo sie wollen. Gerade bei dieser Offenheit ist es aber hilfreich, wenn man Routinen und Struktur bietet“, weiß Wampfler. „Man kann zum Beispiel vereinbaren, dass jede Woche am Dienstag über den Blog gesprochen wird.“

Philippe Wampfler arbeitet bereits seit zehn Jahren mit Blogprojekten im Unterricht. Auch mit anderen Blogprojekten, zum Beispiel zur gemeinsamen Dokumentation des Unterrichts, hat er gute Erfahrungen gemacht. Berichte und Anleitungen dazu veröffentlicht er in seinem Blog.

Neues Fach: Digitalisierung. Mit Kompetenzorientierung und Portfolio.

Zum Schuljahr 2015/16 hat Philippe Wampfler zusammen mit zwei Kollegen ein neues Schulfach „Die digitalisierte Gesellschaft und ihre Medien“ gestartet. Dabei stehen im ersten Jahr Diskurse über die Digitalisierung, Einführungen in verschiedene Werkzeuge und der Aufbau eines eigenen YouTube-Kanals im Vordergrund. Im zweiten Jahr wird sich der Fokus auf die Arbeitspraxis in einer digitalisierten Welt verschieben.

Die Benotungen fließen in den den Schulabschluss ein; Klassenarbeiten oder andere Prüfungen gibt es aber nicht. Die Leistungsbewertung erfolgt auf der Grundlage eines individuellen Portfolios, an dem jeder Schüler kontinuierlich arbeitet. Alle Lernziele sind in Form von Kompetenzrastern formuliert. Den Schülern ist freigestellt, in welcher Form sie ihre Kompetenz belegen. Nur digital muss es sein – oder zumindest digitalisiert. „Am Anfang schreiben sie häufig noch in ihr Heft“, berichtet Wampfler. „Dann zeigen wir ihnen, dass sie das auch mit Evernote oder Google Drive in digitale Formate überführen können. Das kennen die meist schon von WhatsApp, wo sie sich häufig Arbeitsblätter mit ihrer Smartphone-Kamera digitalisiert als Foto zuschicken.“

Jeder Schüler sucht sich zu Beginn eine geeignete Plattform für das eigene Portfolio. „Dafür bieten sich Blogsystem wie Blogger, WordPress oder Tumblr an. Oder man nimmt digitale Werkzeuge wie Evernote, OneNote oder Google Drive“, erklärt Wampfler. In ihrem digitalen Portfolio dokumentieren die Schüler nicht nur fertige Arbeiten, sondern als Lerntagebuch auch Zwischenstände und Diskussionen. Die Inhalte müssen zumindest für die anderen Lernenden und die Lehrer zugänglich sein, können aber auch öffentlich geführt werden. Zur Bewertung setzen sich Lehrer und Schüler zusammen und prüfen, wo welche Kompetenzen belegbar sind. „Schüler schätzen sich zunächst selbst ein. Sie können zum Beispiel zeigen: ‚Ich verstehe, was digitale Gesellschaft bedeutet, weil ich einen Blogpost über Facebook-Freundschaft geschrieben habe und einen Podcast zum Phänomen ‚Ghosting’ aufgenommen habe.’“

Für Philippe Wampfler ist dieses Vorgehen die konsequente Umsetzung der Möglichkeiten der Digitalisierung für das individualisierte Lernen in der Schule. „Jede Person hat nicht nur einen eigenen Weg um zu lernen, sondern auch um zu zeigen, was sie kann. Die Schüler können in der Arbeit mit dem Portfolio ihre eigenen Stärken einbringen. Manche können besser schreiben, andere besser sprechen. Also sollen sie das nutzen, womit sie ihre Kompetenzen am besten ausdrücken können.“


[1] Philippe Wampfler (2013). Facebook, Blogs und Wikis in der Schule: Ein Social-Media-Leitfaden
Philippe Wampfler (2014). Social Media – Wie digitale Kommunikation den Körper, die Beziehungen und das Lernen von jungen Menschen verändert
beide bei Vandenhoeck & Ruprecht


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Philippe Wampfler

Fächer
Deutsch, Philosophie, Digitalisierung; Fachdidaktik Deutsch

Schule
Kantonsschule Wettingen (Aargau, Schweiz)

  • Gymnasium
  • 1050 Schülerinnen und Schüler
  • In der Schweiz ist die Abiturquote recht tief (im Kanton Aargau rund 17% eines Jahrgangs), das Leistungsniveau (mit 13 Schuljahren und Schuleintritt mit 6) recht hoch

Aufgaben in der Schule

  • Social-Media-Manager für Öffentlichkeitsarbeit
  • Mitglied der Steuergruppe Kommunikation

Berufsbiograhie

  • Studium der Germanistik, Mathematik und Philosophie, Lehramtsstudium
  • Unterricht auf verschiedenen Schulstufen
  • Verschiedene Schulentwicklungsprojekte und Lehraufträge an Hochschulen
  • Beratungsmandate im Bereich Lernen und neue Medien
  • Aktuell Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Zürich (30%-Anstellung)

Links


Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.


Berufliche Bildung selbstgesteuert – Digitale Medien im Unterricht von Heinz Dieter Hirth

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Heinz Dieter Hirth; Foto: Privat (steht nicht unter einer freien Lizenz)

Heinz Dieter Hirth (Foto: privat; nicht unter freier Lizenz)

Das Ende der Schultasche

Als Lehrer Heinz Dieter Hirth eines Morgens zur Schule kam, rief ihm eine Kollegin zu: „Mensch, H. D.! Du hast nie eine Schultasche dabei, wenn Du morgens kommst. Wie machst Du das bloß?“ Hirth antwortete: „Da wo ich hingehe, ist mein Schulmaterial schon vorhanden. Ich brauche nur mein Handy. Und Kaffee und Essen kriege ich in der Kantine.“

An der Oskar von Miller Schule funktioniert das, denn die Berufliche Schule hat einige Bereiche komplett digitalisiert und alle Materialien in die Cloud verlagert. Gleichzeitig hat sie eine eigene Didaktik entwickelt, das Lernschrittkonzept[1], mit der individuelles und selbständiges Lernen auf Seiten der Schüler und Teamwork auf Seiten der Lehrer konsequent umgesetzt werden.


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


Kfz-Werkstatt und Großlernbüro

Wer die Oskar-von-Miller-Schule besucht, kommt an einen Ort, der äußerlich nicht besonders revolutionär wirkt. Ein leiser Verdacht keimt an der Eingangstür auf. Dort klebt nicht etwa der an Schulen verbreitete Aufkleber „Handys verboten“, sondern ein Schild „Finde uns auf Facebook!“

Schule auf Facebook (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz)

„Finde uns auf Facebook“ (Foto: Jöran Muuß-Merholz unter CC BY 4.0)

Drinnen gibt es die Räume, die man an einer praktisch ausgerichteten Schule für technische Berufe erwarten würde: eine Kfz-Werkstatt, diverse Räume mit technischer Ausstattung. Aber wo sind die Klassenräume? Der Besucher wird stattdessen in das „Maxi“ geführt, eine Art Großraumbüro. Oder besser: ein Großlernbüro. Hier sitzen junge Menschen an Tischinseln, meist vor einem Laptop, bisweilen auch mit Büchern oder Smartphones beschäftigt. Dazwischen gibt es ein paar Zimmerpflanzen und Regale, einen Kopierer, eine Kaffeeküche und Besprechungsecken. Ein Lehrer ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. So soll die digitale Avantgarde des Lernens aussehen?

Die Oskar-von-Miller-Schule

Die Oskar-von-Miller-Schule bietet Ausbildungsgänge in den Bereichen Elektrotechnik, Informationstechnik, Fahrzeugtechnik und Anlagen- und Versorgungstechnik. Insgesamt gibt es ungefähr 2100 Lernende in der Berufsvorbereitung, der Berufsfachschule, der Berufsschule und der Fachschule für Technik. Seit 2015 hat die Oskar-von-Miller-Schule den Status einer rechtlich selbständigen beruflichen Schule. Die großen Umbrüche hat die Schule bereits in den Jahren ab 2005 vollzogen, als sie für wesentliche Bereiche des Unterrichts das sogenannte Lernschrittkonzept entwickelte. Federführend waren der damalige Abteilungsleiter Dietmar Johlen und Heinz Dieter Hirth, der Lehrer ohne Schultasche. Die Devise der „Wende im Kopf“ (Johlen) lautete damals: „Wir wollen dabei helfen, dass junge Menschen von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit gelangen.“

Lernfelder und Lernschrittkonzept

Die Schüler an der Berufsfachschule sind zwischen 15 und 18 Jahre alt. Sie kommen am Montag um 8.00 Uhr in die Schule. In der Oskar-von-Miller-Schule wurden Fachtheorie und Fachpraxis zusammengeführt und große Teil des Unterrichts in (Block-)Wochen gegliedert. Hier steht dann jeweils eine Lernsituation in einem Lernfeld im Mittelpunkt.

Am Montagmorgen gibt es eine Einführung in das Thema der Woche. Die Schüler müssen sich einen Überblick verschaffen: Um was geht es? Wozu brauche ich das? Wie funktioniert es? Schüler bekommen einen Input vom Lehrer, schauen in Lehrbüchern nach oder stöbern in den Arbeitsergebnissen von Schülern aus vorherigen Jahrgängen.

Diese erste Auseinandersetzung mit dem Thema dauert ungefähr zwei Stunden. Danach legen die Lernenden im von der Schule selbst entwickelten Lernschrittplaner ihre Wissens- und Kompetenzziele für diese Woche fest. Dabei wird vom Ende her gedacht. Die Leitfrage lautet: „Wie kann ich am Ende der Woche einer anderen Person zeigen, dass ich das kann, was ich hier als Kompetenzziel definiere?“ Für die Planung hilft ein Kompetenzraster, eine Sammlung von Themen- und Checklisten sowie Vorschläge für mögliche Formen, in denen der Lernnachweis am Ende erbracht werden kann. All das finden die Schüler im Moodle, dem Lernmanagementsystem der Schule.

Moodle und Mahara

Die Oskar-von-Miller-Schule setzt auf eine Kombination auf Moodle und Mahara. Hirth ist für die Verwaltung von beiden Lernplattformen verantwortlich. „Moodle gehört den Lehrenden, Mahara gehört den Lernenden. Moodle wird als Lernmanagementsystem genutzt, in dem Arbeitsaufträge und Materialien bereitgestellt werden. Mahara ist das E-Portfolio, quasi die private Aktentasche der Lernenden. Hier dokumentieren die Schüler ihre eigene Arbeit.“

Lernen und Lernprodukte

Ab der dritten Stunde beginnt die Phase eigenständiger Arbeit, die fast eine ganze Woche umfasst. Spätestens zur Mitte findet ein Soll-Ist-Vergleich mit Schüler und Lehrer statt: Was wolltest Du bisher erreichen, wo stehst Du?

Am Ende der Woche muss immer ein Lernprodukt erstellt worden sein. Das kann fachpraktisch sein, wie eine selbst erstellte Schaltung, oder fachtheoretisch, also die Dokumentation einer kognitiven Lernleistung. Hirth konkretisiert: „Man kann zum Beispiel die Erklärung erstellen, wie eine Ampelschaltung funktioniert. Die Schüler dokumentieren das in einem Erklärvideo oder einer Fotostrecke. Oder sie nutzen kreative Webtools wie PowToon, mit dem sie einem Cartoon erstellen, der quasi die Anleitung zu einem Vorgehen abbildet.“ Nicht immer muss alles digital erstellt worden sein, wohl aber digitalisiert abgebildet werden. „Wir schulen unsere Lernenden zum Beispiel in Visual Facilitation, so dass sie auch schöne Plakate erstellen können, die sie dann abfotografieren.“

Lerncartoon (CC-BY Jöran Muuß-Merholz).

„Entwicklung von Lehrmaterial“ (Foto: Jöran Muuß-Merholz unter CC BY 4.0)

Auch ganz andere Formen sind möglich. Hirth erinnert sich, dass einmal angehende Fachkräfte für Veranstaltungstechnik die Eigenschaften von Strom, Spannung und Widerstand über ein Rollenspiel erklärten.

Während der eigenständigen Arbeit stehen die Lehrer ständig beratend zur Seite. „Wir sind keine Lehrer, wir sind Lernbegleiter und Lerncoaches“, betont Hirth. „Wenn ein Schüler Unterstützung braucht, versuchen wir es immer mit Elementen aus dem Coaching.“

Heinz Dieter Hirth

Hirth machte eine Handwerkslehre und legte seine Meisterprüfungen als Elektroinstallateur und Radio- und Fernsehtechniker ab. Er studierte einige Semester Wirtschaftsinformatik, ohne einen Abschluss zu machen, erreichte aber das Staatsexamen zum Fachlehrer in arbeitstechnischen Fächern.

An der Lehrkräfteakademie des Hessischen Kultusministeriums betreut er Projektschulen in deren schulischer Entwicklung im Bereich Selbstorganisiertes Lernen und Einsatz neuer Medien. Zusätzlich ist er für eine private Fachschule im Bereich der Meisterausbildung tätig.

Eigenständige Auseinandersetzung mit dem Thema

Der größte Teil der Arbeitszeit wird für die Phase „Intensive Auseinandersetzung mit dem Thema“ genutzt. Jeder Schüler recherchiert dabei in verschiedenen Medien. Er kann zum einen die Lernprodukte der Schüler aus den Vorjahren anschauen und miteinander vergleichen. Lehrer Hirth macht sich keine Sorgen, dass einfach Lösungen von Vorgängern kopiert werden. „Das ist eine Frage der Aufgabenstellung. Da bei uns die Aufgabe lautet, am Ende das Gelernte im Gespräch mit dem Lernbegleiter erklären zu können, hilft das Kopieren nicht weiter. Spätestens im Gespräch stellt sich heraus, ob der Schüler das wirklich verstanden hat. Das Kopieren ist erlaubt. Es macht aber niemand mehr.“

Neben den Materialien, Checklisten und Aufgabenvorschlägen, die die Schüler im Lernmanagementsystem Moodle finden, suchen sie nach weiteren Quellen. Diese finden sie häufig via Google, in Wikipedia, Fachforen oder auf den Websites der Hersteller einschlägiger technischer Geräte. Diese Recherche ähnelt nicht zufällig dem Weg, den die Lernenden auch in der Praxis in ihren Betrieben gehen werden, wenn sie sich neues Wissen erschließen müssen. Diese Eigenständigkeit liegt nicht jedem Schüler von der ersten Woche an, weiß Hirth. „Die Lernenden müssen erstmal ihre Konsumhaltung ablegen. Sie sollen ihren Lernprozess aktiv gestalten. Sie sollen sich Wissen aneignen und eigene Lernprodukte erarbeiten. Sie müssen ‚Prosumenten’ werden.“

Offene Pausen

„Wenn man Individualisierung und Eigenverantwortung ernst nimmt, müssen die Lernenden sich auch ihre Pausenzeiten selbst wählen können“, findet Hirth. Deswegen wurde an der Oskar-von-Miller-Schule das Konzept der offenen Pause eingeführt. Zwei kleine Regelungen reichten dafür aus: Jeder Schüler muss aufschreiben, wann er zur Pause geht und wann er zurückkommt. Man darf die Pause nicht zu Beginn oder Ende des Schultags nehmen. Von den Ergebnissen ist Hirth überzeugt: „Das Konzept hat uns unglaublich gut getan. Wir haben seitdem keine Störer mehr im Unterricht.“

Recherche im Web und in Büchern

Das Digitale ist für Hirth kein Selbstzweck. „Die Schüler müssen lernen, Materialien kritisch zu überprüfen. Wir halten unsere Lernenden an, auch in Bücher zu gucken. Nicht die erste Quelle ist die wahre Quelle.“ Schüler können beim Lehrer bzw. Lerncoach auch um inhaltliche Unterstützung bitten, wenn sie nicht weiterkommen. Hirth: „Der Lernende kann bei uns einen Input abrufen. Die Lehrkraft macht dann einen Vortrag oder gibt alte Fassungen von Klausuren und Prüfungen aus.“

Da das offene Lernen viele Schüler herausfordert, gibt es immer wieder Überprüfungen, ob der Einzelne über- oder unterfordert ist. Das kann in Form von Kontrollfragen geschehen, mit dem der Lernende prüfen kann, ob er das Thema verstanden hat. Oder der Lernbegleiter macht eine Bestandsaufnahme, einen Soll-Ist-Vergleich mit dem Schüler.

Herausfordernde Schüler

„Ich bekomme oft gesagt, dass man so eine Didaktik nur IT-Schülern oder mit Schülern auf einem bestimmten Niveau machen kann. Das stimmt nicht! Wir machen das auch mit den ganz schwierigen Schülern.“ Hirth berichtet, dass gerade die herausfordernden Lernenden profitieren können, wenn alle Inhalte im Netz sind. „Ein Grundproblem bei dieser Gruppe war bei uns früher: 15 von 20 Schülern haben ihre Hefte oder Bücher zu Hause gelassen. So etwas ist bei uns überhaupt kein Thema mehr. ‚Heft vergessen’ gibt es schlicht nicht mehr.“ Auch mit der offenen Arbeitsform können nach Hirths Erfahrungen alle Schüler zurechtkommen, weil die Methode das Vorgehen klar strukturiert und feste Vorgaben zu den Bestandteilen macht, die im Portfolio enthalten sein müssen.

Fachgespräch und Reflexion

Am Ende der Woche steht das Fachgespräch zwischen Schüler und Lernbegleiter. Das erstellte Lernprodukt zusammen mit einer Dokumentation des Lernprozesses bildet die Grundlage für das Gespräch, in dem der Lernende zeigen kann, was er gelernt hat. Das Gespräch ist auch Grundlage der Bewertung, wobei Hirth wichtig ist, dass alle Anforderungen und Bewertungskriterien schon vorab feststehen und transparent gemacht werden.

In der anschließenden Reflexion wird gemeinsam besprochen, was der Lernende über sein Lernen erfahren hat und wo er sich als nächstes weiterentwickeln will.

Das Fachgespräch findet übrigens nicht immer am Freitag statt. Schon logistisch wäre das für die Lernbegleiter problematisch. Stattdessen kann der Termin für das Gespräch auch mal zwei oder drei Wochen später liegen. Diese Verzögerung ist für H. D. Hirth gewollt. „Uns ist wichtig, dass der Lernende nicht memoriert, sondern wirklich lernt. Was er wirklich kann, das kann er auch nach drei Wochen noch zeigen.“ Hirth ist zusätzlich in der Fachschule tätig, in der das Studium im Abend- und Samstagsunterricht absolviert wird. „Da findet das Fachgespräch auch mal ein ganzes Jahr später statt. Die Lernenden sind dann oft ganz überrascht, dass sie sich vielleicht noch 5 Minuten einlesen müssen, aber ansonsten keine Probleme haben, ihre Kompetenz darzulegen. Das klappt, wenn sie wirklich etwas gelernt haben.“

Lernprodukte und E-Portfolio

Schaut man auf die Produkte des individuellen Lernens, so kommen in den E-Portfolios der Schule beachtliche Ergebnisse zusammen. Jedes Portfolio folgt einem vorgegebenen Aufbau in drei Spalten:

  • Links finden sich zunächst Name und E-Mail-Adresse des Lernenden, darunter die zu Beginn definierten Lernziele und der angestrebte Lernnachweis, also die Beschreibung des Lernproduktes.
  • In der Mitte und im Mittelpunkt steht das Lernprodukt, beispielsweise ein eingebundenes Video, eine Fotoreihe, ein Cartoon, ein Podcast oder ein Text.
  • In der rechten Spalte gibt es weitere Nachweise, z.B. bei einem Computerprogramm als Lernprodukt der Link zum Download des Programms. Außerdem ist vorgeschrieben, dass hier Hinweise zur Weiterverwendung gegeben werden. In der Regel ist das eine der sechs Creative Commons Lizenzen, die – je nach Wahl der Lernenden – unterschiedliche Auflagen zur Weiterverwendung machen.

Die Visualisierung des gesamten E-Portfolios bietet für die Lernenden auch einen Überblick, welche Kompetenzen sie im Laufe von vier Semestern entwickelt haben.

Hirth betont eine wichtige Funktion von Mahara: die selektive Freigabe von Inhalten. Jeder Schüler kann für jedes Element seines Portfolios einzeln entscheiden, wer darauf Zugriff hat: nur er selbst plus ein Lehrer oder die gesamte Schule oder die Öffentlichkeit des World Wide Webs. Außerdem können individuelle Ansichten zusammengestellt werden, die im Rahmen einer Bewerbung freigegeben werden. Der Schüler entscheidet dann, welche Elemente er einer Sammlung hinzufügt, die er über einen versteckten Link dann (nur) einem potentiellen Arbeitgeber zugänglich macht. Hirth: „Wir haben Beispiele, in denen Bewerber genau dadurch erst einen Fuß in die Tür und dann einen Ausbildungsplatz bekommen haben. Schüler können ganz einfach nicht nur ihre Noten, sondern ganz konkrete Arbeitsergebnisse vorzeigen.“

Außerdem besteht für die Schüler die Möglichkeit, ihr persönliches Portfolio zum Ende der Schulzeit mitzunehmen und in ein lebensbegleitendes Portfolio zu überführen.

Open Educational Resources (OER)

Da alle Schüler ihre Arbeiten im Mahara dokumentieren und mit einer freien Lizenz versehen, entsteht an der Schule gleichsam nebenbei ein rasch wachsender Fundus an Open Educational Resources (OER), auf den die nächsten Jahrgänge zugreifen können. Hirth ist begeistert: „Vor fünf Jahren haben wir die Auflage gemacht, dass alle Schülerarbeiten in dieses System kommen. Seitdem haben wir ca. 20.000 Produkte dort gesammelt, von denen ein großer Teil für die nächsten Schüler zur Verfügung steht. Das ist ein enormer Fundus!“

Teamarbeit und Cloud-Dienste

Die Oskar-von-Miller-Schule hat für die Arbeit in den Lernfeldern die Arbeit in Lehrerteams zum Standard gemacht. Nicht jeder Lehrer bekommt eine eigene Moodleumgebung, sondern jedes Fach bzw. jeder Jahrgang. Hirth: „Früher mauerten die Kollegen oft, wenn es um ihren eigenen Unterricht ging. Die Arbeit in Team hat eine unglaubliche Wendung bewirkt.“

Materialien werden in der Regel nicht direkt im Moodle gespeichert, sondern über Clouddienste wie Google Docs für Texte oder YouTube für Videos. Auch die Schüler machen das in der Regel so „Damit bleiben unsere Lernplattformen schlank“, freut sich Hirth. „Außerdem können Materialien von verschiedenen Orten aus eingebunden werden und sind bei Überarbeitungen stets sofort in allen Verwendungskontexten aktualisiert. Für unsere Zusammenarbeit hat das einen großen Sprung nach Vorne gebracht.“

Digital als Teil der Antwort

Bemerkenswert an der Arbeit der Oskar-von-Miller-Schule ist nicht in erster Linie der Grad der Digitalisierung. Beim Gespräch mit den Lehrenden fällt vielmehr auf, dass das Digitale immer Teil der Antworten, nicht Teil der Frage war. Die Schule hat sich nie gefragt: „Wie können wir digitaler werden?“ Stattdessen standen am Anfang pädagogische Fragen: Wie können Schüler selbständig lernen? Wie können sie ihren Lernfortschritt dokumentieren? Wie können Lehrer in Teams zusammenarbeiten? Auf diese Fragen hat die Schule Antworten gefunden, in denen digitale Plattformen und Werkzeuge einen Teil der Lösung bieten.

Auf zu neuen Ufern

Bereits 2008 war Heinz Dieter Hirth bei einem Wettbewerb der Initiative D21 unter „Die besten Lehrkräfte für Deutschlands Schulen der Zukunft“ gewählt worden und hat in der Folge weitere Preise für seine Arbeit und schulische Projekte gewonnen. Neben seiner diversen Lehrtätigkeiten treibt er weitere Neuentwicklungen voran.

Zusammen mit seinem ehemaligen Chef Dietmar Johlen hat Hirth einen gemeinnützigen Verein gegründet. Gemeinsam wollen sie neue Wege erschließen, wie Menschen sich ohne Schule auf eine Abiturprüfung vorbereiten können. Eine andere Baustelle, die ihn beschäftigt: „Wir müssen bei unserer Kompetenzorientierung die Affektebene mit einbeziehen. Was motiviert den Schüler? Wie fühlt der sich beim Lernen? Das müssen wir viel stärker berücksichtigen!“

Außerdem plant Hirth mit der Schule ein Angebot im Bereich „Open Degree“. Nach dem Vorbild der Open University in England sollen Schüler sich Inhalte aus einem Kompetenzkatalog frei zusammenstellen können. Für Hirth ist das die folgerichtige Fortsetzung des Schulkonzeptes: „Viele Schüler kommen ja nicht zu uns, weil sie einen Abschluss haben wollen, sondern weil sie Kompetenzen erwerben wollen. Das wollen wir konsequent ermöglichen.“


[1] Dietmar Johlen, Heinz-Dieter Hirth: Das Lernschrittkonzept. Schritt für Schritt auf dem Weg in eine neue Lehr- und Lernkultur. Juni 2012. http://pb21.de/wp-content/uploads/2014/09/broschuere_lernschrittkonzept_2.pdf


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Heinz Dieter Hirth

Fächer
Elektrotechnik, Fachpraxis

Schule

  • Oskar-von-Miller-Schule, Kassel (Hessen)
  • berufliche Schule der Stadt Kassel
  • Seit Januar 2015 im Status einer rechtlich selbständigen beruflichen Schule (RSBS)
  • Ausbildungsgänge in den Bereichen: Elektrotechnik, Informationstechnik, Fahrzeugtechnik sowie Anlagen- und Versorgungstechnik
  • ca. 2.100 Lernende werden in Ausbildungsgängen zur Berufsvorbereitung, der Berufsfachschule, der Berufsschule und der zweijährigen Fachschule für Technik beschult

Aufgaben in der Schule

  • Neben dem Unterricht bin ich an der Oskar-von-Miller-Schule für die Internetserver für das Hosting des Lernmanagementsystems Moodle und des ePortfolio-Systems Mahara zuständig
  • Daneben betreue ich die Fortbildung von Kolleginnen und Kollegen und die Weiterentwicklung von Konzepten innerhalb der Moodle-Küche
  • Abordnung an die Hessische Lehrkräfteakademie; dort Betreuung von Projektschulen in deren schulischer Entwicklung im Bereich selbstorganisiertes-Lernen
  • Für einen private Fachschule im Bereich der Meisterausbildung tätig

Berufsbiograhie

  • Handwerkslehre, Meisterprüfungen als Elektroinstallateur und Radio- und Fernsehtechniker
  • Einige Semester Studium Wirtschaftsinformatik (ohne Abschluss)
  • Staatsexamen zum Fachlehrer in arbeitstechnischen Fächern

Links


Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.

Ethik-Blog und Geographie-Wiki – Digitale Medien im Unterricht von Mandy Schütze

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Foto: Mandy Schütze

Mandy Schütze (Foto unter CC0)

Sechs Quadratmeter Rückmeldungen zu den Hausaufgaben

Würde man die Rückmeldungen zur Hausaufgabe „Wirkungsgefüge zum Stadtklima“ ausdrucken, wäre die notwendige Leinwand ca. 2×3 Meter groß. Sieben oder acht Schüler könnten also gleichzeitig davor stehen und die Ergebnisse anschauen. Sie könnten nicht nur sichten, was ihre Lehrerin Mandy Schütze bei ihren eigenen Aufgaben kommentiert hat, sondern auch die Entwürfe ihrer Mitschüler und das Feedback dort. Das wäre praktisch, denn so könnten sie zusätzlich voneinander lernen. Es würde ihren individuellen Interessen entgegenkommen, denn während die eine Schülerin nach allgemeinen Anregungen in den Entwürfen sucht, will der andere Schüler vergleichen, was andere zu genau dem Punkt geschrieben hat, der bei seiner Arbeit noch zu kurz gekommen war.


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


Es gibt zwei logistische Probleme: Zum einen muss man erst einmal 2×3 Meter Leinwand schaffen. Und dann sollen nicht sieben oder acht, sondern 25 Schüler gleichzeitig davor stehen und nach eigenen Schwerpunkten und Zusammenhängen suchen können. Und das am besten auch noch vertiefend im Rahmen der Hausaufgaben. Es bräuchte also für alle 25 Schüler je eine Kopie der 2×3 Meter Leinwand. Oder eine digitale Lösung.

Wir befinden uns im Geographie-Kurs am Gymnasium im beschaulichen Gerabronn: 25 Schüler von Lehrerin Mandy Schütze haben je ein Wirkungsgefüge zum Thema Stadtökologie entworfen. Auf Papier. Dann haben sie mit ihren Smartphones die eigenen Ausarbeitungen abfotografiert und an Lehrerin Schütze geschickt. Ihre Lehrerin arrangierte alle Fotos nebeneinander auf einer großen (virtuellen) Leinwand des Internetdienstes „Conceptboard“. Mithilfe von (virtuellen) Post-Its und (virtuellen) Pfeilen kommentierte sie dann die Schülerarbeiten. Anschließend gab sie den Link zum Gesamtwerk an ihre Schüler frei. Diese können nun in Ruhe die Ergebnisse sichten – nicht auf 2×3 Meter Papier, sondern einfach auf dem Bildschirm ihrer Computer, zu Hause oder im Klassenraum.

Das ist nicht nur ein logistischer, sondern auch ein pädagogischer Vorteil, findet Mandy Schütze. „Das Feedback ist für die Schüler so viel intensiver. Sie können sich alles in Ruhe nach eigenen Schwerpunkten angucken. Wenn die das so machen, haben sie total viel über Wirkungsgefüge gelernt!“

Mandy Schütze hat ihr Conceptboard so eingestellt, dass die Schüler ohne Anmeldung eigene Post-Its ergänzen und so eigene Anmerkungen hinzufügen können. Oder sie können direkt am Kommentar Rückfragen zum Lehrer-Feedback stellen. Danach beginnt eine Überarbeitungsrunde. Schüler können auf der digitalen Leinwand auch einzelne Elemente aus den verschiedenen Wirkungsgefüge-Darstellungen kopieren und neu zusammensetzen. So lernt man nicht nur mehr über Wirkungsgefüge, sondern gleich auch sinnvolles Arbeiten mit Copy &Paste.

Rechts das auf Papier erstellte Wirkungsgefüge, das digital fotografiert und kommentiert wurde. Links ein digitaler „Remix“ durch die Lehrerin als Feedback.

Rechts das auf Papier erstellte Wirkungsgefüge, das digital fotografiert und kommentiert wurde. Links ein digitaler „Remix“ durch die Lehrerin als Feedback. (Foto by Mandy Schütze)

Frau Schütze in Raum 78

Mandy Schütze unterrichtet Geographie und Ethik. Ihre Stunden finden meistens in Raum 78 statt – der einzige Klassenraum der Schule, in dem es nicht nur ein interaktives Whiteboard, sondern auch sechs Computer mit Internetzugang gibt. Eigentlich ist der Raum Mandy Schütze nicht fest zugeordnet. Allerdings ist die Konkurrenz überschaubar. „Ich habe nicht so viele Kollegen, die da ständig rein wollen“, berichtet Mandy Schütze. „Im Kollegium weiß man: ‚Frau Schütze ist die, die mit den Medien arbeitet.’“

In letzter Zeit gibt es verstärkt Nachfragen von anderen Lehrern: „Sag mal, wie machst Du das denn? Kannst Du mir das mal erklären?“ Während die Nachfrage bei Fortbildungsangeboten zu digitalen Themen überschaubar war, kommen die Nachfragen inzwischen häufig im Alltag. Im Lehrerzimmer des Gymnasiums Gerabronn stehen die Computerarbeitsplätze so, dass die Kollegen auf dem Weg zu Kaffeemaschine daran vorbei müssen. „Da gucken die einem dann häufig über die Schulter und fragen nach.“

Auch jenseits der Schule ist Mandy Schütze in Sachen Zusammenarbeit zwischen Lehrern aktiv. Sie führt bereits seit 2002 ihr eigenes Blog unter frauschuetze.de. Seit 2009 arbeitet sie im Vorstand der Zentrale für Unterrichtsmedien, kurz: ZUM e.V. Dort übernimmt sie die Kommunikation und arbeitet in verschiedenen Wiki-Projekten mit.

Screenshot des ersten Artikels von Frau Schütze aus 2002.

Screenshot des ersten Artikels von Frau Schütze aus 2002.

Geographie-Wiki: ein gemeinsames Schulheft der ganzen Klasse

Wikis setzt Mandy Schütze auch im Unterricht ein, z.B. im Geographiekurs in den Stufen 11 und 12. Jeder Kurs bekommt ein eigenes Wiki, das mittels Passwort nur für Lehrerin und Schüler zugänglich ist. Gleich in der ersten Stunde im neuen Kurs stellt Mandy Schütze den Schülern die Grundidee vor: „Das Wiki ist unser gemeinsames Heft. Hier kommt alles rein, was wir behandeln und was wir vereinbaren.“

Schüler und Lehrer füllen das Wiki nun zwei Jahre lang gemeinsam mit Inhalten. Bereits zu Beginn steht die Stundenstruktur für das kommende Schuljahr im Wiki. Die Schüler haben so eine Orientierung, wann welche Themen anstehen werden. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Dokumentation der Unterrichtsinhalte. Jede Stunde ist ein anderer Schüler dafür zuständig, einen entsprechenden Eintrag ins Wiki zu schreiben. Dies geschieht noch im Unterricht. Während Phasen der Ergebnissicherung wird der entstehende Artikel mittels Beamer gezeigt, so dass Schüler und Lehrerin die Ergebnisse „live“ gemeinsam dokumentieren. Dazu gehört auch, dass auf Papier erarbeitete Ergebnisse wie Plakate abfotografiert und ins Wiki hochgeladen werden.

Häufig trägt Lehrerin Schütze dann nach der Stunde noch Inhalte nach, zum Beispiel Arbeitsblätter, Links zu weiteren Materialien, Videos oder Podcasts zum Thema. Außerdem sorgt sie dafür, dass die Inhalte korrekt sind. „Die Schüler sollen sich darauf verlassen können, dass das stimmt, was im Wiki steht. Schließlich ist es ihre Grundlage für Nacharbeiten und Wiederholen, auch wenn sie mal fehlen. Und nicht zuletzt ist es die Vorbereitung für die Abiturprüfung.“ Das „gemeinsame Heft“ Wiki wird im Kurs durchgängig genutzt, so dass vor den Abschlussprüfungen alle Inhalte dort an einer zentralen Stelle zu finden sind.

Anhand von Klausuren und Prüfungen erkennt man, wie das gemeinsame Wiki organisatorische Fragen erleichtert sowie Verbindlichkeit und Klarheit erhöht. „Früher gab es kurz vor den Prüfungen stets eine Welle von Nachfragen der Schüler. Ich habe dann dieselben Fragen drei- oder viermal beantworten müssen, entweder am Lehrerzimmer oder per E-Mail. Jetzt werden alle Fragen und Antworten an zentraler Stelle im Wiki gesammelt“, erklärt Mandy Schütze. „Die Schüler kommen auch nicht in die Situation, dass sie bestimmte Inhalte nicht mehr in ihren Unterlagen finden. Und es kann auch kein Schüler mehr sagen: ‚Das hatten wir aber nie besprochen!’ Alles ist im Wiki für alle dokumentiert.“

Auch Gruppenarbeiten werden im Wiki verschriftlicht. Jede Arbeitsgruppe bekommt eine eigene Wiki-Seite, so dass bei Präsentationen vor der Klasse alle Inhalte im Wiki dokumentiert sind. Gibt es längere Phasen selbständigen Arbeitens, so werden Zwischenergebnisse im Wiki abgespeichert. So hat die Lehrerin stets einen Überblick, wo die einzelnen Gruppen gerade stehen. Für individuelles Üben können interaktive Lernmodule zum Beispiel von WebGeo.de über das Wiki bereitgestellt. So bietet das Wiki gleichermaßen Funktionen für die gemeinsame Arbeit wie für vertiefende Individualisierung.

Wie hoch ist der Zusatzaufwand, der man als Lehrerin investieren muss? „Für mich ist er nicht wirklich höher als vorher. In mancherlei Hinsicht spare ich sogar Zeit. Ich kann zum Beispiel Inhalte von einem Kurs einfach in einen anderen kopieren.“ Man merkt, dass Mandy Schütze ein Fan von Wikis ist. Gibt es für sie gar keine Nachteile? „Diskussionen im Wiki funktionieren nicht. Das haben wir probiert, aber es ist zu unübersichtlich.“ Und was sagen die Schüler zum Wiki? „Die sind schon davon überzeugt. Ein Jahrgang hat zum Abitur sogar die Abizeitung mit einem Wiki gestaltet, weil sie es so praktisch fanden.“

Reflexion

Ist das Wiki also das perfekte gemeinsame Schulheft? Mandy Schütze ist selbst noch auf der Suche nach einer Antwort: „Mir ist selbst noch nicht klar, inwieweit ein gemeinsames Heft wirklich die eigenen Hefte ersetzten kann. Eigentlich brauchen die Schüler gar kein eigenes Heft mehr. Dennoch führen viele Schüler parallel einen Hefter, in den sie auch ausgedruckte Inhalte aus dem Wiki einfügen und in dem sie individuelle Mitschriften anfertigen. Die vergleichen sie dann zu Hause noch einmal mit dem Wiki. Ich finde gerade erst heraus, inwieweit das für das Lernen notwendig ist.“

Ethik-Weblog – „Da steppt der Bär im Blog!“

Fachwechsel. In den Ethik-Kursen von Mandy Schütze gibt es zwei Jahre lang keine Hausaufgaben – aber ein Weblog. Für dieses Blog gibt es klare Vorgaben: Jeder Schüler muss pro Halbjahr einen eigene Artikel veröffentlichen, der sich zum Diskutieren eignet, fünf Kommentare zu anderen Artikeln verfassen und eine Mitschrift zu einer Unterrichtsstunde schreiben. Die Inhalte im Blog fließen auch in die Benotung mit ein.

Das Blog „Ethik13“ entstand 2011. (Der Name rührt daher, dass es sich um den Abitur-Jahrgang 2013 handelte.) Zum Ende der Schulzeit haben die Schüler entschieden, dass der Blog vom nächsten Kurs fortgesetzt werden sollte, und so wurde der Blog schon mehrfach „vererbt“ und fortgeführt.

Zum Einstieg mit dem Blog steht am Anfang von Jahrgang 11 eine Einführung an. Mandy Schütze zeigt hier weniger die Technik („Das ist so intuitiv, da braucht es minimalen Input.“), sondern stellt vor allem die Grundsatzfragen: Soll der Blog öffentlich geführt werden? Warum sollen die Schüler mit Pseudonymen arbeiten? Was muss in Sachen Urheberrecht beachtet werden?

Für die eigenen Artikel steht den Schülern sowohl der Inhalt als auch der Zeitpunkt frei. Bei den Themen stehen die „Weltverbesserungsthemen“ ganz vorne: Vegane Ernährung, Textilwirtschaft, Schulnoten … „Das sind die Themen, die die Schüler auch so beschäftigen“, erklärt Schütze. „Da gibt es immer wieder Wechselwirkungen aus analoger und digitaler Welt. Die diskutieren etwas in der Cafeteria und dann entscheidet sich jemand, das Thema in einem Blogbeitrag zu vertiefen. Und dann setzt sich die Diskussion im Blog und in der Cafeteria fort.“ Auch zwischen den Unterrichtsthemen und den Blogthemen gibt es immer wieder Bezüge.

Die Schüler schreiben ihre eigenen Artikel und Kommentare zu Hause und können selbst entscheiden, wann im Halbjahr sie ihre Beiträge veröffentlichen. „Ich sage fast jede Woche: ‚Macht das nicht alle auf den letzten Drücker!’“ Aber genau so kommt es: Die Hälfte macht es in den letzten Wochen. „Da steppt dann der Bär im Blog! Das macht richtig Spaß! Und ich denke mir: ‚Das könnten wir auch früher haben.’ Aber so ist das bei individuellem Zeitmanagement. Die Schüler sollen ja lernen, sich die Zeit frei einzuteilen.“

Wenn man sich das gesamte Blog anschaut, wird ein zusätzliches Potential deutlich: Es gibt immer häufiger Bezüge über die Zeit hinweg. Schüler können ja nicht nur sehen, was die Jahrgänge vor ihnen gemacht und diskutiert haben, sondern die Diskussion über neue Kommentare wieder aufnehmen. Mandy Schütze hat das inzwischen auch schon mit einer 10. Klasse genutzt, in der sie den Schülern dort Arbeiten aus dem Blog der „Großen“ als Arbeitsgrundlage gegeben hat.

Mit dem Blog lassen sich auch räumliche Grenzen überwinden. Mehrmals hat Mandy Schütze ihr Blog mit einem ähnlichen Projekt einer Lehrerin der Kaiserin-Augusta-Schule in Köln vernetzt. Die Schüler kommentierten dann Beiträge der jeweils anderen Schule. „Da entsteht nochmal eine ganz andere Motivation!“

So wächst das Blog immer weiter. Und Mandy Schütze hat noch viele Ideen zur Erweiterung des Projektes. „Man könnte jedem Schüler einen anderen Schüler als Reviewer zuordnen, der den Artikel gegenliest und Feedback gibt. Oder man macht die Zusammenfassung einer Unterrichtsstunde nicht immer schriftlich, sondern auch mal als Podcast.“ Auch müsse die Arbeit mit dem Blog nicht auf die höheren Klassen begrenzt sein. „Ich habe das auch schon einmal mit Klasse 7 gemacht. Da gab es zum Beispiel die folgende Aufgabe: Schreibt einen Kommentar, in dem ihr folgenden Satz vervollständigt: ‚Es gibt (k)einen Gott, weil …’ Am Ende gab es insgesamt über 100 Einträge mit Kommentaren und Nachfragen – auch von außerhalb des Klassenzimmers.“

Eine neue Qualität

„Es geht mir um selbständiges Arbeiten. Selbständig die Zeit wählen und das Thema aussuchen, selbständig einen zusammenhängenden Texte schreiben und einen eigenen Standpunkt formulieren“, bilanziert Mandy Schütze ihr Blog-Projekt. „Im Blog setzt man sich mit anderen Meinungen auseinandersetzen und muss die eigene Meinung überdenken. Das machen wir sonst zu selten, das kommt immer zu kurz.“ Mandy Schütze bereitet solche Unterrichtseinheiten vor, indem sie jenseits des Blogs Essays schreiben lässt. Im Blog kommt dann eine neue Qualität hinzu. „Die Schüler brauchen sehr lange für einen Kommentar. Die sagen: ‚Das ist ja öffentlich, da muss ich mir das gut überlegen und ordentlich formulieren.’ Das ist ganz wichtig, dieses Wissen ‚Mein Text wird von anderen gelesen!’“

Für die Lehrerin gab es beim Arbeiten mit dem Blog immer wieder Überraschungen. „Es profitieren ganz besonders die Schüler, die sonst eher ruhig sind. Die sind im Unterricht ganz still – und im Blog schreiben sie die unglaublichsten Beiträge!“

Vielleicht ist das das entscheidende Argument für die digitalen Medien im Unterricht von Mandy Schütze: Sie kann jeden einzelnen Schüler sehen. „Manchmal gehe ich nach 45 Minuten raus und denke: ‚Heute habe ich nicht mit jedem reden oder ihn zumindest wahrnehmen können. Das ist für mich das Gegenteil von Individualisierung. Ich muss jeden Einzelnen sehen können. Die digitalen Medien können für mich die 45 Minuten entzerren. Ich kann zu Hause nochmal nachschauen, was eigentlich wer macht.“

Kann Frau Schütze sich noch vorstellen, ohne digitale Medien zu unterrichten? „Klar könnte ich. Aber wenn die Möglichkeiten da sind, dann muss ich sie auch nutzen. Zu wissen, dass es da etwas gibt, dass es funktioniert und etwas bringt– und es dann nicht zu machen, das wäre fatal!“


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Mandy Schütze

Fächer
Ethik, Geographie

Schule
Gymnasium in Gerabronn (Baden-Württemberg)

Aufgaben in der Schule

  • Fachbeauftragte Ethik
  • Betreuung der Schülerzeitung
  • neben der Schule: Vorstandsmitglied bei ZUM e.V. (Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet)

Berufsbiograhie

  • 1997 Abitur in Radeberg
  • 1997 – 2003 Studium Lehramt Geographie/Ethik für Gymnasium in Dresden (Abschluss: 1. Staatsexamen)
  • 2000 – 2006 Arbeitskreis Ethik der TU Dresden
  • 2006 – 2009 Referendariat in Leipzig (Geographie/Ethik) – (Abschluss: 2. Staatsexamen)
  • seit September 2009 Studienrätin im Gymnasium Gerabronn (Geographie/Ethik)
  • seit November 2009 im Vorstand des ZUM Internet e.V.
  • Publikationen (Auswahl): „Ethikunterricht im Web 2.0 – Wikis und Weblogs optimal eingesetzt“, ZDPE 2/2008; „Das Weblog: das Ende der Privatheit von Unterricht“; Ethik und Unterricht, in: Nida-Rümelin, Julian; Spiegel, Irina; Tiedemann, Markus: Handbuch Philosophie und Ethik, Band 1, UTB September 2015 (zusammen mit Donat Schmidt)

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Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.

Ausweitung der Themen und Lernwege – Digitale Medien im Unterricht von Felix Schaumburg

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Felix Schaumburg (Foto: Felix Schaumburg; nicht unter freier Lizenz)

Felix Schaumburg (Foto: Felix Schaumburg; nicht unter freier Lizenz)

Wattenmeer und Galapagos in Uellendahl-Katernberg

Nur zwei Worte stehen zu Beginn an der Tafel: „Wattenmeer“ und „Galapagos“. Das ist der knappe Input, den Felix Schaumburg seiner 6. Klasse im Fach Gesellschaftslehre gegeben hat. Schaumburg hat gerade anhand des Zillertals den Zusammenhang zwischen Tourismus und Ökologie erarbeitet. Jetzt geht es um die Vertiefung. Die Aufgabenstellung zu den zwei Begriffen an der Tafel ist allgemein gehalten: „Entscheidet Euch für einen der beiden Begriffe. Tut Euch zu zweit oder dritt zusammen und recherchiert mögliche Fragestellungen zum Thema Tourismus und diesem Begriff.“ Die Schüler legen los, ausgestattet mit Tablets oder Smartphones. Sie haben zwei Stunden Zeit.


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


Die Gesamtschule Uellendahl-Katernberg in Wuppertal ist erst zwei Jahre alt. Felix Schaumburg gehört zum Gründungsteam, die Sechstklässler zum ersten Jahrgang der neuen Schule. Sie hat noch provisorische Räume, aber immerhin schon überall WLAN. Die Schule setzt auf das Konzept „Bring Your Own Device (BYOD)“, nach dem die Schüler auch in der Schule ihre eigenen Geräte nutzen können. Die Smartphone-Dichte in der 6. Klasse liegt bei 80 bis 90 Prozent. Ein Computerraum ist nicht vorgesehen. Mit den Mitteln hat die Schule stattdessen mobile Gerätewagen mit Tablets angeschafft, aus denen die Schüler sich bei Bedarf bedienen. Alle Arbeitsergebnisse, egal auf welchem Gerät sie erarbeitet wurden, müssen auf dem schulischen Dateiserver gespeichert werden.

Die Recherche der Sechstklässler verläuft unspektakulär. Die Schüler geben meist „Wattenmeer“ oder „Galapagos“, manchmal noch „Tourismus“ als Suchbegriffe bei Google ein, schauen sich die ersten Ergebnisse an und versuchen, daraus zentrale Inhalte festzuhalten. Das soll eine effiziente Methode sein, um sich das Thema „Massentourismus oder sanfter Tourismus“ zu erschließen? Wahrscheinlich ginge das schneller, wenn man alleine auf die fachliche Ebene blickt. Aber Felix Schaumburg geht es in der 6. Klasse gerade um mehr: „Es dreht sich nicht nur um das Thema Wattenmeer oder Galapagos. Die Schüler lernen in diesen zwei Stunden auch etwas über die Recherche mit Google, über das Zusammenfassen von Informationen, über das Erschließen eines neuen Themas, über Zusammenarbeit, über Zeitmanagement und anderes mehr. In einer 6. Klasse muss ich da stark unterstützen. Ich kann nicht nur sagen ‚Recherchiert mal’ und mich dann zwei Stunden zurücklehnen.“

Und so ist der Lehrer ständig in der Klasse unterwegs, schaut über Schultern und fragt nach, gibt Tipps und berät die Schüler in ihrem jeweiligen Arbeitsschritt. Oft setzt er sich zu einer Gruppe und bespricht mit ihnen das aktuelle Thema oder Fragen zum Vorgehen. So vielfältig bei dieser Arbeitsweise die thematischen Aspekte sein können, so unterschiedlich sind auch die Arbeitsmittel. Manche Gruppen recherchieren auf einem Tablet und dokumentieren auf einem zweiten Gerät in einer Textverarbeitung oder einem Präsentationsprogramm. Andere wiederum nutzen Papier für ihre Notizen. Lehrer Schaumburg macht hier keine Vorgaben: „Wir haben eine gemeinsame Ausgangsbasis und ein gemeinsames Ziel – aber die Wege zum Ziel sollen die Schüler individuell gestalten.“

„Die Grenzen für das individuelle Lernen ausweiten“

Die Gesamtschule Uellendahl-Katernberg ist eine staatliche Neugründung. Das pädagogische  Konzept wurde von einem Team von Lehrern entwickelt, die wie Schaumburg vorher an einer anderen Gesamtschule in Wuppertal arbeiteten, die 2015 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde. Was treibt einen Lehrer wie Felix Schaumburg, der doch offenbar an einer hervorragenden Schule gearbeitet hat, viel Energie in einen Neuanfang zu stecken? Schaumburg sagt: „Ich will die Grenzen für das individuelle Lernen ausweiten. Wenn man der konstruktivistischen Lerntheorie folgt und anerkennt, dass Lernen immer individuell ist, dann kommt man schnell an die institutionellen Grenzen. Eigentlich müssen wir Fächer und Altersstufen auflösen. Mit der Umsetzung über die drei Säulen Lernbüro, Projekt und Werkstatt können wir das hier ein Stück weit entwickeln.“

Im Fach Gesellschaftslehre kommt die Recherchephase zum Ende. Zunächst gleichen die Gruppen mit demselben Oberbegriff „Wattenmeer“ oder „Galapagos“ ihre Ergebnisse untereinander ab. Anschließend präsentieren die Gruppen mündlich und ohne Präsentationstechnik ihre Ergebnisse vor der Klasse. Rund um die Begriffe „Wattenmeer“ und „Galapagos“ stehen nach den zwei Stunden Recherche viele verschiedene Aspekte an der Tafel. „Ich sammle manchmal analog an der Tafel und manchmal digital mit einer Mindmap. Der Vorteil des Digitalen zeigt sich bei komplexeren Themen, wo ich digital einfach besser verschieben und clustern kann. Außerdem lässt sich das Ergebnis digital einfacher dokumentieren.“ Aufbauend auf diese Themensammlung entwickelt Schaumburg jetzt in einem Unterrichtsgespräch die Konzepte von Massentourismus und sanfter Tourismus weiter.

Tafel zum Massentourismus

Tafelbild zum Massentourismus (Foto: Felix Schaumburg).

Massentourismus auf Galapagos und am Wattenmeer (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz)

Massentourismus auf Galapagos und am Wattenmeer (Foto: Felix Schaumburg).

Plädoyer für den Kontrollverlust

Wie plant man so ein Unterrichtsgespräch, wenn die Ergebnisse der Recherche vorab nicht feststehen?  Schaumburg: „Bei der Online-Recherche verliere ich als Lehrer völlig die Kontrolle über die Inhalte. Die Schüler finden mehr Wissen, als ich als Lehrer haben könnte. Auch das ist neu und verändert meine Rolle als Lehrer.“ Schaumburg hat gelernt, mit diesem Kontrollverlust des individuellen Lernens umzugehen. Gleichzeitig sieht er bei vielen Kollegen hier große Vorbehalte. Viele würden stärker strukturierte Methoden wie z.B. WebQuests vorziehen, die die Inhalte und das Vorgehen im Detail vorgeben. Schaumburg kann damit wenig anfangen: „Das WebQuest ist als Einstieg gut, stößt aber sehr schnell an seine Grenzen. Es ist ein digitales Arbeitsblatt. Nicht mehr.“ Er plädiert für den Kontrollverlust: „Wer sich von der rein fachlichen Ebene löst, wird zum echten Didaktiker. Er bietet die Möglichkeit an, auch etwas über den Weg zu lernen: über die Art und Weise des Arbeitens, zum Beispiel To Do-Listen, Quellenbewertung, Projektmanagement.“

Der Unterricht als BarCamp

Im Fach Gesellschaftslehre geht es eine Woche später mit einer neuen Aufgabenstellung weiter: „Entwickelt ein Konzept, wie man im Wattenmeer / auf Galapagos sanften Tourismus umsetzen kann!“ Wieder haben die Schüler zwei Stunden Zeit und müssen am Ende präsentieren. Dieses Mal jedoch nicht (nur) mündlich, sondern mit einem vorzeigbaren Produkt. Das kann eine Präsentation oder eine Grafik sein, die digital erstellt wurde. Oder auch eine Zeichnung auf Papier. Mit dem Tablet als Dokumentenkamera wirft Schaumburg dann das Analoge über den digitalen Beamer an die Wand. Die Produkte sind die Grundlagen einer gemeinsamen Diskussion in der Klasse, die am Ende der Unterrichtseinheit steht. Schaumburg erzählt begeistert von den Konzepten, die dort entwickelt werden: „Es ist enorm, welche Kreativität und Motivation freigesetzt werden kann, wenn die Kinder ihre eigenen Ideen verfolgen können. Dabei kommt es überhaupt nicht drauf an, ob die Ergebnisse in digitaler oder analoger Form vorliegen. Das Digitale erweitert einfach die Möglichkeiten.“

Die Ergebnispräsentationen erfolgen immer mit der ganzen Gruppe. „Damit verhindere ich, dass einzelne Schüler sich in den Gruppenphasen vollkommen zurückziehen. Jeder weiß, dass am Ende alle mit dem Ergebnis vorne stehen.“ Wie passt das zusammen – einerseits große Offenheit bei der Recherche, andererseits klare Vorgaben, z.B. wer präsentiert und wo Dateien gespeichert werden? „Von der Idee her denke ich Unterricht wie ein BarCamp. Auch wenn ich es nicht so nenne. Ich will eine feste Struktur schaffen, aber innerhalb dieser Struktur größtmögliche Freiräume für eigene Interessen und individuelle Lernwege ermöglichen.“

Auf die Frage, wie er seine Unterrichtsmethoden näher beschreiben würde, reagiert Schaumburg nachdenklich: „Wenn etwas durchmethodisiert ist, finde ich das ganz furchtbar. Wenn ein Raster meine eigenen Fragen nicht zulässt, dann fühle ich mich beim Lernen behindert.“ Gleichzeitig ist ihm wichtig, dass es immer auch einen roten Faden gibt, dem man folgen kann, wenn man keinen eigenen Faden spinnen mag. Immer wieder findet man diesen Spagat in Schaumburgs Unterricht: Großen Freiraum ermöglichen und gleichzeitig ausreichend Halt bieten. Digitale Medien sind immer dabei, ohne dass sie der Ausgangs- oder Mittelpunkt der Überlegungen wären.

Das Ende der Ressourcenlimitierungen

„Das ist nicht gerade revolutionäre Didaktik, oder?“, lacht Schaumburg im Gespräch über seinen Unterricht. „Individualisierung ist für mich digital nicht unbedingt etwas Anderes als analog. Alle Möglichkeiten waren prinzipiell schon vorher da. Man konnte prinzipiell auch ohne digitale Medien den Lernenden große Informationssammlungen zur Verfügung stellen, Texte, Videos, Arbeitsblätter etc. Aber das waren dann wahre Materialschlachten mit riesigem Aufwand.“

Schaumburg beschreibt das gleiche Muster auch auf der Ebene der Mittel, mit denen Schüler im Unterricht Lernprodukte erstellen können. Auch ohne Smartphone und Tablet konnte man ja Videos und Radiosendungen, Texte und Zeichnungen, Wandzeichnungen und Fotocollagen anfertigen. „Man konnte prinzipiell auch ohne digitale Medien verschiedene Produkte erstellen lassen. Das war total wertvoll, aber unglaublich aufwändig. Das ging vielleicht einmal im Jahr in der Projektwoche. Jetzt habe ich das Universalwerkzeug Tablet. Ich habe alles zur Verfügung und kaum noch Limitierungen.“

Das Ende der Begrenzungen, sowohl auf der Ebene der Materialien wie auch bei den Werkzeugen für Lernprodukte – das ist für Schaumburg der Kern des Digitalen. Hier sieht er die Chancen für Individualisierung und Differenzierung. „Die Schüler können eigene Themen bearbeiten und eigene Arbeitsformen wählen – und zwar unabhängig davon, welche Materialien und Werkzeuge ich als Lehrender vorbereitet habe. Das ist die große Veränderung! Individuelle Lernarrangements werden durch digitale Medien nicht erst ermöglicht, aber deutlich erleichtert. Es ist dann nicht mehr eine Frage der Ressourcen, sondern ‚nur noch’ eine Frage der Kompetenz der Lehrenden und eine Zeitfrage auf Unterrichtsebene.“

Auch wenn Schaumburg natürlich Recht hat, wenn er sagt, dass Individualisierung auch ohne digitale Medien möglich und jetzt nur viel einfacher geworden ist, so ist der Unterschied dennoch nicht nur graduell. Frei nach dem naturwissenschaftlichen Postulat „More is different“ des Physik-Nobelpreisträgers P. W. Anderson kann man vermuten: Wenn der quantitative Unterschied eine bestimmte Größe erreicht, so verändert sich auch die Qualität eines Gegenstands. Mit digitalen Medien lässt sich eben doch nicht das Gleiche wie vorher machen, nur jetzt einfacher, schneller und bunter. Mit digitalen Medien funktioniert die informationelle Welt so radikal anders als vorher, dass auch das Lernen und Lehren grundsätzlich neu gedacht werden kann.

Manche Fächer sind freier als andere

Felix Schaumburg nennt sich selbst „einen schlechten Didaktiker oder Methodiker“. Er scheint grundsätzlich mit der Idee der Methodik zu fremdeln: „Jede Methode raubt den Schülern mögliche individuelle Lernwege.“ Gleichzeitig hält er nicht alle Fächer für gleichermaßen geeignet für individuelles Lernen und sieht entsprechend andere Potentiale für digitale Medien. Im Fach Gesellschaftslehre, das Themen aus den Bereichen Erdkunde, Geschichte und Politik bearbeitet, gibt es eine höhere Freiheit in der Bearbeitung eines Themas. Hier geht es für Schaumburg eher um allgemeine Kompetenzen als um konkrete Inhalte. Ziel des Unterrichts ist häufig die Entwicklung eines Lernprodukts. Dabei können die Themen weiter gefasst, die Arbeitsprodukte vielfältiger und die Wege dahin offener sein.

Anders verhalte es sich in den Hauptfächern Mathe, Deutsch und Englisch, die an Schaumburgs Schule als Lernbüro organisiert sind. Hier stehen Basiskompetenzen im Vordergrund, die auf einen fachlicher Kanon aufbauen. Dabei gibt es zum einen Inputphasen für alle, zum anderen die Arbeit an vorgegebenen Lernbausteinen. Diese Arbeit ist zwar im Lernbüro so organisiert, dass Schüler sich individuell für Reihenfolge und Schwerpunkte entscheiden. Aber letztlich sind die Inhalte, die innerhalb eines Schuljahres bearbeitet werden, vorgegeben. Auch die Arbeitsformen sind in der Regel vorgegeben. Das Lernbüro ist für Schaumburg also einerseits „die höchste Form der Individualisierung“, andererseits sind Inhalte und Formen jedes einzelnen Bausteins vorgegeben. Von daher sieht Schaumburg hier auch nicht die größten Potenziale für digitale Medien in seiner Schule: „Natürlich könnte man alles auch in einer Online-Plattform wie Moodle umsetzen. Man könnte viel mehr auf das Lernen mit Apps setzen. Aber das wäre dann nicht primäre eine Förderung von Individualisierung. Vielleicht kann man bei den Tests ansetzen, die zu individuellen Zeitpunkten geschrieben werden können. Digital ließe sich häufiger testen und schnellere Rückmeldung geben. Aber das wollen wir gar nicht unbedingt. Wir wollen Lernprozess und Prüfung voneinander trennen. Wir wollen, dass man beim Üben anonym Fehler machen kann – digital ist das schwierig.“

So wird das Material für die Lernbüros zwar digital und in Arbeitsteilung erstellt, aber weiterhin auf Papier verteilt. „Digitalisierung könnte hier vieles bequemer machen. Aber das ist auch eine Ressourcenfrage,“ sagt Schaumburg. „Zu viel Digitalisierung auf einmal überfordert manche Kollegen einfach.“

Und so sieht Felix Schaumburg die Potentiale für den Einsatz digitaler Medien zuvorderst in offeneren Arbeitsformen und Projektarbeiten, bei denen eine freiere Themenwahl und die Gestaltung eines Lernprodukts im Vordergrund stehen. Beim Lernen, in dem nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch Soft Skills und übergreifende Kompetenzen zu den Lernzielen gehören, besteht die Gefahr, dass Lerner von der Offenheit und möglichen Ablenkungen überfordert sind und die zugemutete Selbständigkeit ablehnen? „Das passiert schon. Aber das hat meist nichts mit den Medien zu tun, sondern mit Grundsätzlicheren. Meistens passiert das Gegenteil: Schüler kommen beim selbständigen Arbeiten in einen Flow. Sie sind häufig vom Ende der Stunde überrascht und sagen: ‚Oh, das ging jetzt aber schnell!’ Wenn Schüler fragen, ob sie noch etwas weiter arbeiten können, dann ist das das beste Feedback, das mal als Lehrer bekommen kann.“


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Felix Schaumburg

Fächer
Chemie, Sozialwissenschaften in Sek I und II, Neue Technologien

Schule
Gesamtschule Uellendahl-Katernberg in Wuppertal, Schule im Aufbau mit 405 Schülerinnen und Schülern im dritten Schuljahr (2015-2016). Voll Inklusiv.

Aufgaben in der Schule

  • Koordination Medien
  • stellvertretende Schulleitung (kommissarisch)

Berufsbiograhie

  • Referendariat bis 2008 und Lehrer bis 2013 an der Gesamtschule Barmen (Wuppertal)
  • Seit 2013 Gesamtschule Uellendahl-Katernberg: Mitglied im Gründungsteam der Schule. Aufbau einer inklusiven Schule mit Lernbüros, Werkstätten und Projekten.

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Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.

Üben, Feedback und Teamarbeit mit dem Notebook – Digitale Medien im Unterricht von Achim Lebert

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Achim Lebert

Achim Lebert (Foto: privat; nicht unter freier Lizenz)

Grammatik-Übungen am Computer

„Wenn die Schüler ihre Übungen am Rechner machen, bekomme ich viel mehr von ihnen mit!“, schwärmt Schulleiter und Deutschlehrer Achim Lebert. Am Ottobrunn-Gymnasium in München werden Grammatik, Rechtschreibung oder Wortschatz am Notebook geübt.

Zu Beginn der Unterrichtsstunden hat Lebert Links zu Online-Übungen im Bereich Grammatik bereitgestellt. Die Arbeitsanweisung ist einfach: „Erledigt diese Übungen und notiert Euch, wie viel Prozent der Aufgaben ihr bei den Übungen richtig habt. Wer acht Übungen mit mindestens 90 Prozent richtig erledigt hat, meldet sich bei mir.“ Nun sitzen die Schüler vor den Laptops und üben, entweder alleine oder in Tandems. Was ist der Vorteil davon, solche Übungen auf einem digitalen anstatt auf dem analogen Arbeitsblatt zu machen, Herr Lebert?


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


„Wenn ich ein Arbeitsblatt für alle auf Papier verteile, dann ist das höchst ineffizient! Für manche Schüler ist das absolut langweilig, weil sie das schon können. Ich stoße als Lehrer gar nicht darauf, dass der Ludwig nach zwei Minuten komplett fertig war und dass der Hans die Regel noch gar nicht verstanden hat.“ Aber Binnendifferenzierung gibt es doch auch mit Papier? „Der Lehrer kann Massen an Kopien anfertigen – für verschiedene Übungstypen und verschiedene Schwierigkeitsstufen. Das Problem: Geben Sie dafür am Ende mal Rückmeldungen für 25 oder 30 Schüler! Mit digitalen Medien kriegen wir das einfacher hin. Über Software sind ganz starke, individuelle Feedbacksysteme möglich, wie es sie früher nicht gegeben hat. Mit entsprechender Software sehe ich das für alle Schüler sofort.“

Und was ist das für Software? Die Frage scheint Achim Lebert fast langweilig zu finden, so selbstverständlich ist für ihn die Antwort. „Für Online-Übungen gibt es im Netz alleine für Deutsch bestimmt 40 oder 50 Websites wie zum Beispiel ‚Suzannes Seite Deutsch’. Wir haben außerdem auf unserer Lernplattform Moodle einen großen Übungs- und Testraum.“ Die Pädagogik hinter den Online-Übungen wirkt nicht gerade revolutionär. Es gibt Multiple Choice Tests, Lückentexte, Ergänzungs- oder Zuordnungsübungen. Nichts was nicht auch schon auf Papier dagewesen wäre. Die Schüler sind trotzdem eifrig dabei. Lebert erklärt: „Den Schülern macht das ganz anders Spaß, weil der Computer sofort Rückmeldung gibt, was richtig und was falsch ist. Und wenn ich nicht weiterkomme, bietet das System mir schrittweise Hilfe, um zur richtigen Lösung zu gelangen.“

Unmittelbares Feedback und graduelle Unterstützungssysteme, das klingt dann doch pädagogisch sinnvoll. Und wofür braucht es dann noch den Lehrer? „Der Lehrer muss aufpassen, dass er nicht einfach nur Übungen machen lässt, sondern diese in einen Rahmen einbindet.“ Lebert lässt seine Schüler dokumentieren, welche Übungen sie machen und wie ihr Erfolg dabei ausfällt. Dafür haben sie einen „Onlineübungspass“ – eine Tabelle, in der sie jede Übung mit Datum, Dauer und Erfolgsquote eintragen. Diese Ergebnisse besprechen sie dann mit dem Lehrer. Wenn die Übungen über die schuleigene Lernplattform Moodle erledigt werden, bekommt der Lehrer dort detaillierte Rückmeldung über den Lernerfolg. Lebert ist begeistert: „Ich kriege sofort eine Übersicht über alle Übungen – eine Diagnose sowohl für jeden einzelnen Schüler wie auch für die ganz Klasse. Das ist zum Beispiel für eine Einstiegsstunde zu einem Thema sehr hilfreich.“

Diagnose und Feedback – für Schüler und Lehrer

Bei digitalen Arbeitsblättern hilft der Computer als individuelles Diagnose- und Feedbacksystem. Ganz nebenbei entlastet er natürlich auch schlicht auf der handwerklichen Ebene. Lehrer Lebert hat in der Grammatikstunde bei 25 Schüler, die je 8 Übungen bearbeitet haben, keine einzige Korrektur gemacht.

Dabei ist nicht zu unterschätzen, dass die Schüler auch ihre eigenen Fortschritte sofort sehen. „Das steigert die Motivation“, berichtet Lebert, „und die Fehlerquote geht im Vergleich zum traditionellen Unterricht ganz deutlich nach unten.“ Der „traditionelle Unterricht“ ist für Lebert zum Beispiel die Arbeit mit dem Schulbuch. „Die vorhandenen Schulbücher sind auf individualisiertes Lernen gar nicht eingestellt. Manchmal merke ich bei einem Schüler in Klasse 8, dass ihm Grundlagen fehlen, die eigentlich in Klasse 5 dran waren. Andere Schüler sind vielleicht schon viel weiter. Das Schulbuch ist in dieser Hinsicht absolut begrenzt. Es fängt die Schwachen nicht ab, aber es lässt auch die Starken alleine.“

Wer wird (Lektüre-)Millionär?

Mit dem Computer lassen sich auch Testen und Leistungsmessung ganz anders angehen. Aber zuerst lassen wir uns ein anderes Beispiel aus Leberts Deutschunterricht zeigen. In der 9. Klasse führt die Schule seit sieben Jahren mit allen Klassen parallel ein „Moodle Lektüre-Projekt“ durch. Am Anfang steht die Buchlektüre. Dann bearbeiten Gruppen drei größere Aufgaben, wobei der Computer in allen drei Aufgaben sehr kreativ eingesetzt wird:

  • In Woche 1 erstellen die Schüler 15 Quizfragen zur Lektüre. Nach dem Modell von „Wer wird Millionär?“ muss die erste Frage sehr einfach und die 15. Frage sehr schwierig gestaltet sein. Jede Frage muss sich aus der Lektüre beantworten lassen. Dabei findet eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Inhalt statt, weil nicht nur die richtige Antwort, sondern auch drei falsche, aber prinzipiell plausible Antwortalternativen entworfen werden.
  • In der zweiten Woche werden die Beziehungen zwischen den handelnden Personen aus der Lektüre grafisch dargestellt.
  • Und in der dritten Woche geht es um die kreative Auseinandersetzung mit einem Aspekt der Lektüre. Hier erarbeiten die Schülergruppen zum Beispiel einen Film oder einen Comic.

Am Ende jeder Woche werden die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler auf der schuleigenen Lernplattform Moodle veröffentlicht. Dort gibt es dann ein ausformuliertes Feedback und eine detaillierte Bewertung entlang von zuvor festgelegten Kategorien durch die Lehrkraft.[1] Lebert ist überzeugt: „Hier sieht man, was möglich ist: ganz andere Aufgabenformate, ganz andere Formen, wie man Schüler zum Schreiben und zum Denken bringt. Und auch ganz anderes Feedback, als man es sonst typischerweise unter einem Deutschaufsatz findet.“

Das Gymnasium Ottobrunn

Man darf nicht glauben, dass Schulleiter Achim Lebert seine Begeisterung aus der Neuheit der Technik heraus begründet. Er ist ein alter Hase. Das Gymnasium Ottobrunn war seit 2007 Teilnehmer am „Innovative School Program“ von Microsoft. Notebookklassen gibt es bereits seit 2003. Und schon an seiner vorherigen Schule, dem Michaeli-Gymnasium in München, leitete Lebert das Projekt Notebookklassen. „Im Jahr 2001 unterrichtete ich das erste Mal in einer Notebookklasse. Nach einem Jahr hielt ich diese Form des Arbeitens für absoluten Unsinn. Heute ist das Arbeiten in solchen Klassen für mich zur Selbstverständlichkeit geworden. Das Unterrichten in alten Formen fällt mir zunehmend schwer.“

Hat Achim Lebert Vorbilder? „Eigentlich nicht direkt. Man lernt viel aus den eigenen Erfahrungen. Es ist prägend, wenn beim Lernen irgendwann bei Schülern das Fliegen anfängt. Man sieht, dass Schule ganz anders gehen kann, als man sich das bisher gedacht hat.“

Leistungserhebung / Test

Noch einmal zurück in die Grammatikstunde. Achim Lebert wollte noch erklären, inwieweit auch die Leistungsmessung durch digitale Medien individueller gestaltet werden kann. „Das hängt nicht nur an digitalen Medien. Insgesamt suchen wir ja nach Formen, wie wir Leistungsmessungen nicht mehr nur punktuell angehen – alle schreiben denselben Test zur selben Zeit. Da geht es viel in Richtung Portfolio, auch da helfen digitale Formen natürlich.“

Aber bei Grammatikkenntnissen? „Auch da kann man individuelle Formen finden. Ich gebe am Anfang einer Lerneinheit bekannt, bis wann welche Test absolviert sein müssen. Und die Schüler entscheiden dann selbst, wann sie soweit sind.“ Achim Lebert hat dieses Vorgehen inzwischen erweitert. Beispielsweise gehen nur die zwei besten von drei Tests in die Bewertung ein. Oder ein Test kann wiederholt werden, solange der Zeitraum noch nicht abgeschlossen ist. „Und fast alle wollen noch einen Anlauf nehmen“, berichtet Lebert. „So kann ich als Lehrer auch noch einmal zusammen mit dem Schüler gucken, wo die Probleme liegen.“

Besteht dann nicht die Gefahr, dass Schüler den Test schon kennen, weil sie ihn bei anderen vorher gesehen haben? Auch hier hilft der Computer. Die Schüler gehen zum Testen in einen anderen virtuellen Raum auf der Lernplattform. Der Test wird ihnen erst angezeigt, wenn sie ihn starten – so hat jeder auch exakt gleich viel Bearbeitungszeit. Die Aufgaben werden auch nicht alle untereinander angezeigt, sondern erscheinen immer erst nach der Beantwortung einer Aufgabe. Und schließlich kann das Programm die Fragen jedes Mal nach dem Zufallsprinzip neu anordnen.

Erörterungen als Teamarbeit

Noch ein Praxisbeispiel. In der 8. Klasse steht im Deutschunterricht das Thema Erörterung im Lehrplan. Lebert macht daraus für vier Wochen mit je zwei Doppelstunden eine Art Großraumbüro mit Arbeitsteams. Ihr Auftrag: Am Ende der vier Wochen sollen sie gelernt haben, wie man eine Erörterung schreibt. Den Weg dorthin müssen sie eigenständig gestalten. Die Arbeitsanweisungen sind knapp und klar formuliert:

  1. Ihr seid ein gemeinsames Lernteam für den Bereich Deutsch Erörterung.
  2. Definiert in eurer Gruppe, in welchen Bereichen ihr bereits gut seid und wo ihr noch Lernbedarf habt. Erstellt dazu ein entsprechendes Überblicksblatt, wo ihr die verschiedenen Punkte eintragt.
  3. Erstellt gemeinsam einen Arbeitsplan, wie ihr eure Ziele erreichen wollt.

Unterstützende Materialien hat Lehrer Lebert in einem Moodle-Kurs bereitgestellt. Außerdem nutzen die Schüler das Internet für weitere Fragen, die der Lehrer nicht voraussehen kann. Lebert: „Es kann sein, dass manche Schüler auf Probleme stoßen, die sich nicht über ein Schulbuch beantworten lassen. Sie haben online ganz andere Quellen.“ Damit das selbständige Arbeiten gelingt, gibt Lebert Struktur und Leitfragen vor. Die Selbständigkeit steht immer im Vordergrund. So gibt es in den erweiterten Arbeitsanweisungen zum Beispiel den Punkt: „Ihr gebt euch gegenseitig ggf. unterschiedliche Hausaufgaben bzw. fordert vom Lehrer entsprechende Hausaufgaben ein.“ Die eigentliche Arbeit findet also in den Teams statt. Die Schüler sitzen vor ihren Laptops und schreiben eigene Texte oder lesen Entwürfe ihrer Teammitglieder gegen. Review und Feedback findet zuerst in den Teams statt – und zwar häufig ausführlicher, offener und kritischer als im herkömmlichen Unterricht. Das sieht dann nach einer Mischung aus Lesesaal in der Bibliothek und Großraumbüro aus. Irgendwo mittendrin ist auch Lehrer Lebert als Ansprech- und Gesprächspartner bei Fragen und Problem unterwegs. Außerdem muss er Aufsätze korrigieren „und zwar deutlich häufiger mehr Texte als früher!“

Was kommt am Ende dabei raus? Lebert: „Es gibt keine schlechteren, eher sogar bessere Notendurchschnitte. Mir ist etwas anderes noch wichtiger: Man hat auch die Schüler mitgenommen, die sonst kaum aktiv werden oder die im normalen Unterricht häufig abtauchen.“ Profitieren also vor allem die schwachen oder ruhigen Schüler? Lebert sagt, generell profitierten zunächst die starken Schüler, die schon eigenständig arbeiten und das nun voll ausspielen können. Aber auch für die Schwachen ist diese Arbeitsweise hilfreich. Lebert: „Vielleicht sind die Ergebnisse manchmal auch mager, wenn einem Schüler das selbständige Arbeiten schwerfällt. Aber es muss ja gerade unser Ziel sein, dass auch diese Schüler eigenständig werden! Das ist anstrengender. Und natürlich klappt es auch nicht immer. Manchmal muss man für Einzelne auch mal die Methode wechseln, wenn sie damit gar nicht zurechtkommen.“

Teams: Individualisierung und Zusammenarbeit

Die Arbeit in Teams ist etwas, was Lebert beschäftigt. Bei der Arbeit zum Thema Erörterung arbeiten vier Personen zusammen. Es gibt klare Aufgaben. Jede Gruppe muss Aufgaben wie Teamleiter, Hausaufgabenmanager, Qualitätsmanager, Medientutor oder Protokollant festlegen. Leberts großes Ziel: Er möchte Lernteams etablieren, die über längere Zeit zusammenarbeiten. „Warum setzt denn die Wirtschaft auf Teams? Weil es die Effizienz steigert! Weil Wohlbefinden und Motivation steigen und am Ende auch die Ergebnisse! Dafür braucht es Teams, die über längere Zeit stabil bleiben.“

Warum ist Lebert das Thema Teams so wichtig? „Wenn man jeden Schüler ganz alleine am Rechner sitzen lässt, dann ist er auch alleine.“ Droht mit der Individualisierung also tendenziell eine Vereinzelung? „Das steht und fällt mit den Aufgabentypen. Man kann die Laptops so einsetzen, dass jeder Lernende einzeln arbeitet und nur mit dem Lehrer zu tun hat.“ Entsprechend viel hat dann jeder Lehrer auch zu tun, wenn 25 oder 30 Schüler einzeln mit ihm kommunizieren. Für Lebert ist aber nicht nur die Entlastung für die Lehrkraft wichtig. „Wer in Teams oder auch einfach zu zweit arbeitet, ist im Gespräch. Die Schüler versuchen dann, gemeinsam Probleme zu lösen. Wir müssen Schule so strukturieren, dass es Zusammenarbeit und Dialog gibt. Lernen, Feedback und Kommunikation hängen so eng zusammen!“ Bei Achim Lebert setzt sich das auch online fort. Dort gibt es zum Beispiel Aufgabenstellungen, bei denen die Schüler ihrer Ergebnisse in ein Forum stellen und sich gegenseitig Feedback geben müssen.

„Die Schüler in den Dialog bringen!“, wiederholt Lebert sein Plädoyer für Teams. „Aber die Zusammensetzung der Teams ist kritisch. Die Wirtschaft gibt da unglaublich viel Geld aus. Schlechte Teams bringen schlechte Ergebnisse.“ Fast möchte man Achim Lebert ins Wort fallen und sagen: In einem Unternehmen würde wohl auch kein Manager auf die Idee kommen, dass er die Zusammensetzung eines Teams auslosen lässt. Lebert hat daher ein Konzept entwickelt, bei dem sich die Teamleiter freiwillig melden und dann ihre Gruppenmitglieder selbst aussuchen können. Aber Lebert ist schon weiter: „Schüler haben häufig die Möglichkeit, mit Freunden zusammenarbeiten – das mögen sie unglaublich gerne! Das Lernen geht dann ganz heftig nach vorne! Und da kommen phantastische Ergebnisse dabei raus. Die treffen sich dann auch noch am Nachmittag und arbeiten weiter.“

Wenn man Lebert über Computer und über Teams im Unterricht sprechen hört, dann kommt einem irgendwann der Verdacht, dass das viel mehr miteinander zu tun haben könnte. Tatsächlich hat Lebert eine Erklärung, warum seine beiden Lieblingsthemen in der Schule eher die Ausnahme als die Regel sind: „Computer haben sich in der Wirtschaft deswegen durchgesetzt, weil sie hervorragend geeignet sind ein selbstorganisiertes Arbeiten in Teams zu unterstützen. In den Schulen haben sie sich deswegen nicht durchsetzen können, weil diese immer noch stark von der alten Belehrungskultur bestimmt ist und noch zu sehr der passive Zuhörer im Vordergrund steht.“

Klassenarbeit mit dem Computer schreiben

Das Ottobrunn-Gymnasium ist auf dem Weg, Medien und Schulkultur gleichzeitig umzubauen. Achim Lebert ist ein Schulleiter, der die Sache vorantreibt. Gleichzeitig weiß er, dass solche Umbauten nicht eine Sache von zwei oder drei Jahren sind. Schon vermeintlich kleinere Umstellungen wie die vom Stift zu Tastatur sind mühsam. Ein Beispiel:

Vergleicht man schriftliche Arbeiten, die mit dem Computer erstellt wurden, mit solchen, die mit dem Stift auf Papier gebracht wurden, sieht Lebert: „Die Schüler schreiben mit der Tastatur durchschnittlich ein Drittel Text mehr – vorausgesetzt dass sie mit 10 Fingern tippen können. Auch die Qualität nimmt zu, weil im digitalen Text Umstellungen, Ergänzungen und Überarbeitungen viel einfacher sind.

Die Schüler am Gymnasium Ottobrunn schreiben auch Klassenarbeiten mit dem Notebook. Bis zur 8. Klasse werden die Grundlagen dafür gelegt: Jeder Schüler muss das 10-Finger-Schreiben beherrschen. Wer will kann manche geeignete Leistungserhebungen ab Klasse 8 am Rechner schreiben. In Klasse 9 und 10 ist der Computer Standard – aber danach wird wieder auf Papier und Stift umgestellt. Grund sind die Abiturprüfungen. Die dürfen nämlich in Bayern und in ganz Deutschland nicht mit dem Computer geschrieben werden. Damit Schüler ihre Arbeitsweise nicht zu sehr umstellen, müssen sie in 11 und 12 in Klassenarbeiten auf das Notebook verzichten.

Nicht alle finden das richtig. Vor einigen Jahren hat sich ein Schüler sogar an einen Landtagsabgeordneten gewandt, um das zu ändern. Vergebens. „Schulen sind da anachronistisch aufgestellt. In der Wirtschaft würde niemand auf die Idee kommen, irgendwas Relevantes mit der Hand zu schreiben.“, kritisiert Lebert. Gleichzeitig zeigt er, der selbst früher sechs Jahre lang im Bayerischen Kultusministerium arbeitete, Verständnis: „Das System Schule und auch die Universität sind dafür insgesamt einfach noch nicht vorbereitet. Die Sachaufwandsträger müssten dann natürlich auch für eine angemessene Ausstattung mit IT an den Schulen sorgen. Doch langsam erreicht die neue Wirklichkeit den Staat und auch die Schulen.“


[1] Das Projekt basiert auf einer Konzeption, die von der Studentin Mareike Schemmerling 2008 als Bachelor-Arbeit dokumentiert wurde. Schemmerling, Mareike (2008). Konzeption und Implementation einer problemorientierten kooperativen Blended Learning Umgebung im Deutschunterricht am Gymnasium. http://websquare.imb-uni-augsburg.de/files/BA_Arbeit_Schemmerling.pdf (23.8.2015)


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Achim Lebert

Fächer
Deutsch, Geschichte, Sozialkunde

Schule

  • Gymnasium Ottobrunn (München)
  • ca. 1.150 Schülerinnen und Schüler
  • ab 2007 Teilnahme am Microsoft Innovative School Program
  • von 2010 bis 2015 Zertifizierung als MODUS-Schule mit Möglichkeit von der Schulordnung abzuweichen
  • Zertifizierungen als MINT-freundliche Schule, MINT_EC-Schule in 2014, Umweltschule 2015, Schule ohne Rassismus 2015
  • Notebook-Klassen seit 2003
  • Auslagerung der Schule von 2013 bis Februar 2016 nach Höhenkirchen-Siegertsbrunn bis Fertigstellung des Neubaus im Februar 2016

Aufgaben in der Schule

  • Schulleiter
  • IT-Gruppe im Neuaufbau durch Weggang von Kollegen und neuen Systembetreuer

Berufsbiograhie

  • 1987 Referendariat
  • 1989 Lehrer für Deutsch, Geschichte, Sozialkunde Albertinum Coburg
  • 1995 – 2000 Mitarbeiter am Staatsministerium für Unterricht und Kultus
  • 2000 bis 2005 Stellvertretender Schulleiter am Michaeli-Gymnasium München, zugleich Projektleitung Notebook-Klassen
  • Seit 2005 Schulleiter am Gymnasium Ottobrunn
  • 2003–2005 Mitarbeit im Arbeitskreis Notebook des Instituts für Schulpädagogik
  • 2005–2007 Mitglied im Arbeitskreis des Staatsinstituts für Schulpädagogik zur Einführung der P-Seminare in Bayern

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Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.

Authentischer Sprachen lernen – Digitale Medien im Unterricht von Monika Heusinger

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Monika Heusinger (Foto: privat; nicht unter freier Lizenz)

Monika Heusinger (Foto: privat; nicht unter freier Lizenz)

Recherche für einen digitalen Reiseführer über Madrid

„Was Du machen kannst, wenn Du Madrid besuchst“, ist ein typisches Kapitel im Spanisch-Lehrwerk. Lehrerin Monika Heusinger ist damit nicht ganz glücklich. „Es sind nicht immer die aktuellen Themen, die im Schulbuch zu finden sind. Und Neuntklässler finden dort nicht unbedingt die Sehenswürdigkeiten, die sie interessieren. Die gehen nicht ins Theater. Die finden das Fußballstadion spannend!“


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


Also erstellen die Neuntklässler in ihrem zweiten Jahr Spanisch am Otto Hahn Gymnasium Saarbrücken einen eigenen Reiseführer. Für Monika Heusinger, Lehrerin für Spanisch und Französisch, ist der schülerzentrierte Zugang wichtig. „Wenn die Schüler im Web recherchieren, können sie Themen wählen, die sie persönlich interessieren und zusätzliche Aspekte erarbeiten, die im vorgegebenen Material nicht vorkommen.“

Im ersten Schritt geht es um die Verteilung der Themen. Die Schüler arbeiten zu zweit oder dritt und sollen unterschiedliche Themen wählen. „Was gibt es in Madrid und was würde Dich interessieren?“, lautet Heusingers Leitfrage für die ersten 15 Minuten. Die Schüler greifen sich ein Tablet pro Gruppe, verschaffen sich mit Hilfe von Google einen schnellen Überblick und entscheiden sich für eine Sehenswürdigkeit. Sie tragen dann den Namen ihrer Gruppe und ihres Themas in eine Liste ein.

Der Clou: Die Themenliste ist eine Tabelle in Google Docs, in die alle Schüler gleichzeitig schreiben können. Entsteht da Chaos, Frau Heusinger? „Gar nicht, im Gegenteil! Das regelt sich automatisch. Es funktioniert deutlich besser und schneller als eine Themensammlung an der Tafel oder gar über Lose-Ziehen. Früher musste die komplette Themenliste noch verschriftlicht und verteilt werden. Jetzt ist die Liste am Ende der Themenwahl fertig und alle Schüler haben Zugriff.“

Eine zusätzliche Regel motiviert zu schneller Arbeit: Wenn dasselbe Thema von mehreren Gruppen gewählt wird, so bekommt es diejenige zugesprochen, die sich zuerst in die Liste eingetragen hat. In Streitfällen wäre das über die Versionsgeschichte der Liste genau nachvollziehbar.

Nach 20 Minuten beginnt die nächste Arbeitsphase. Die Schüler sammeln Informationen zu ihrer Sehenswürdigkeit und tragen sie in einem Google Doc zusammen. Heusinger erklärt: „Jede Gruppe legt dafür ein eigenes Dokument an, das im gemeinsamen Projektordner gespeichert wird. Das geht in wenigen Sekunden. Ich als Lehrerin (und potentiell auch alle Mitschüler) können dadurch immer auf die Zwischenstände aller Gruppen schauen.“

Die Schüler können für ihre Recherche alle frei im Web verfügbaren Materialien nutzen. „Denkt daran, dass Ihr immer eine Quelle angeben müsst. Wenn Ihr eine neue Seite aufruft, kopiert die Adresse immer direkt in Euer Dokument!“, gibt Heusinger ihren Schüler vor. „Ihr könnt später wieder löschen, was ihr nicht braucht.“ Neben grundsätzlichen Informationen sollen die Schüler auch ein gutes Foto der Sehenswürdigkeit finden und die Adresse des Bildes in ihr Dokument kopieren.

In der 9. Klasse haben die Schüler bereits gelernt, was sie bei der Angabe von Quellen und in Sachen Bildrecht beachten müssen. Falls sie dazu etwas nachschlagen wollen, sind Infoblätter als Gedächtnisstütze in der digitalen Arbeitsumgebung sofort zur Hand.

Themenvielfalt, Medienvielfalt

Die Arbeit mit dem Internet ermöglicht für Monika Heusinger nicht nur Individualisierung bei den Themen, sondern auch bei den Medienformen, über die Schüler sich Wissen aneignen. „Früher habe ich als Lehrerin das Material besorgt. Ich habe zum Beispiel Prospekte von der Tourismuszentrale in Madrid mitgebracht. Jetzt können die Schüler selbst ihren Eingangskanal für Informationen auswählen. Sie entscheiden, ob sie sich Texte durchlesen, Bilder anschauen, Videos ansehen oder einen Podcast hören.“ Viele Schüler bevorzugen visuelle Darstellungsformen. „Sie nutzen häufig nicht Google, sondern YouTube. Ich persönlich wäre da zu ungeduldig, weil ich im Video nicht scannen kann, sondern es mir durchgucken muss. Aber wenn sie das lieber machen, sollen sie das auch. Das ist ihr natürlicher Weg, den sie auch zu Hause gehen, wenn sie Informationen suchen. Das fördert die Motivation enorm!“

Für die Unterrichtspraxis hat Monika Heusinger einen einfachen Weg gefunden, wie auch bei vielen Arbeitsgruppen Videos genutzt werden können, ohne dass der Ton von zehn Videos oder Podcasts im Klassenraum durcheinander geht. „Es gibt kleine Audiosplitter, die das Kopfhörersignal auf bis zu vier Kopfhörer pro Tablet verteilen. Das ist praktisch.“

Artikel für den digitalen Reiseführer

In der folgenden Woche wird die Arbeit am Reiseführer über Madrid fortgesetzt. „Man sieht in der zweiten Stunde einen weiteren Vorteil des digitalen Arbeitens. Wenn wir mit Papier gearbeitet hätten, würde jetzt bestimmt genau der Schüler krank sein oder sein Heft vergessen haben, der in der letzten Woche die Notizen gemacht hat“, lacht Monika Heusinger. „Sie gewöhnen sich einen digitalen Workflow an, der auf Dauer effektiver als die Zettelwirtschaft ist. So etwas wie ‚Heft vergessen’ oder ‚Ich hatte die Liste nicht’ gibt es einfach nicht mehr.“

In der zweiten Stunde geht es darum, aus den gesammelten Notizen einen eigenen Text zu machen. Im Arbeitsdokument werden die Notizen nach und nach gelöscht und stattdessen der eigene Text ausgearbeitet. Manche Schüler nutzen parallel ein zweites Gerät, häufig ihr eigenes Smartphone, um Vokabeln nachzuschlagen.

Nach einer halben Stunde soll der Text fertig sein. Es folgt eine Phase der „Peer Evaluation“ oder „Peer Correction“. Jede Gruppe nimmt sich den Artikel einer anderen Gruppe vor, überarbeitet sprachlich und korrigiert Fehler. Die Organisation für diesen Arbeitsschritt dauert wieder nur Sekunden. Jede Gruppe nimmt den Artikel, der in der Gesamtübersicht in der Zeile unter dem eigenen Eintrag steht. Der Text selbst ist mit einem Klick aufgerufen. „Die Schüler sind im Feedback sehr offen“, berichtet Heusinger. „Die trauen sich auch Rückmeldungen, bei denen ich vorsichtiger wäre. Wenn ein Text nur sehr kurz geworden ist, dann kommt schon mal ein spontaner Ausruf: ‚Wie jetzt? Das war’s schon?!’“

Heusinger zieht eine Zwischenbilanz: „Die Schüler haben sich mit Madrid auf individuelle, aktuelle und authentische Weise auseinandergesetzt, wie es ohne digitale Medien in zwei Schulstunden nicht möglich gewesen wäre. Die Arbeitsorganisation ist deutlich straffer, als wenn wir mit Materialien auf Papier gearbeitet hätten.“

Nach der zweiten Stunde nimmt Monika Heusinger sich alle Texte zu Hause noch einmal zur Korrektur vor. Anschließend erstellt sie aus den einzelnen Dokumenten ein gemeinsames Werk. „Das geht schnell. Ich nutze dafür Liberio. Das ist eine Software aus Berlin, mit der ich aus allen Dokumenten eines Ordners auf Google Drive mit einem Klick ein E-Book erstellen kann.“

Mit diesem Ergebnis geht Monika Heusinger in die dritte Stunde. „Natürlich sieht man den Ergebnissen an, dass die Schüler erst im zweiten Jahr Spanisch lernen und nur zwei Unterrichtsstunden Zeit hatten. Dennoch ist die Wertschätzung der Ergebnisse sehr wichtig.“ Alle Schüler lesen nun alle anderen Beiträge. Anschließend sollen sie eine Sehenswürdigkeit (nicht die eigene) auswählen, die sie gerne ansehen würden. Im Plenum wird dann rundum mündlich die Auswahl vorgestellt und begründet.

Individualisierung mit Tablets

Heusinger koordiniert den Einsatz von Tablet-Computern an ihrer Schule. Außerdem ist sie Fachleiterin für das Fach Spanisch am Studienseminar des Saarlandes und Dozentin für Fachdidaktik Spanisch an der Universität des Saarlandes. Mediendidaktik und Fachdidaktik möchte sie nicht voneinander trennen. „Individualisierung bedeutet für mich, dass jeder Schüler die Eigenverantwortung für die Gestaltung des Lernprozesses übernimmt und damit die eigenen Interessen und Stärken einbringen kann. Durch die digitalen Medien entstehen da ganz neue Möglichkeiten. Und mit den Tablets und der digitalen Umgebung wird der Arbeitsfluss sehr leicht.“

Bisher gibt es an der Schule 20 iPads, demnächst sollen es 40 sein. Die Schule hat sich bewusst für ein System mit zentraler Ausleihe und gegen die Eins-zu-Eins-Ausstattung von nur einer Klasse entschieden, um möglichst vielen Schülern die Nutzung zu ermöglichen. Außerdem können die Schüler im Unterricht auch eigene Geräte nutzen. Monika Heusinger sieht durch die Tablets einen deutlichen Wandel in der Computernutzung: „Wir haben auch Notebooks zur Ausleihe und einen Computerraum. Seit die Tablets da sind, werden die Notebooks aber so gut wie gar nicht mehr ausgeliehen. Den Computerraum brauchen wir höchstens noch für längere Textproduktionen oder bestimmte AGs.“

Wie hast Du’s mit Google?

Als Lernmanagementsystem setzt Monika Heusinger seit 2013 auf Google Drive. „Das ist für mich wirklich eine Lernumgebung“, zeigt sich Heusinger überzeugt. „Hier sind Materialien und ganz viele Werkzeuge beieinander und einfach zugänglich. Ich kann alle Materialien zentral bereitstellen, und am selben Ort können die Schüler damit arbeiten.“ Bei Google Drive zählen zu den Werkzeugen Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Präsentationssoftware sowie zahlreiche Erweiterungen wie Mindmapping- oder Übersetzungsprogramme. Außerdem können weitere Materialien im Web über Links angeboten werden.

In Deutschland stellt sich bei der Arbeit mit Google Drive sofort die Frage nach dem Datenschutz. Die Nutzung ist im Saarland grundsätzlich gestattet. Außerdem hat Monika Heusinger die Materialien so eingerichtet, dass sie komplett ohne individuelle Anmeldung genutzt werden können. „Im Unterricht ist jedem Gerät, nicht jedem Schüler ein Account zugeordnet. Für die Arbeit zuhause sind alle Inhalte über einen Link erreichbar, für den es keine Anmeldung braucht.“ Die Anmeldung über einen eigenen Google-Account ist also nicht notwendig. Dennoch nutzen einige Schüler sie. „Sehr viele Schüler haben einen eigenen Google-Account, schon weil sie häufig Android-Smartphones haben. Die legen den Schulordner dann auch in ihrer eigenen Ablage ab. Das ist ganz individuell. Jeder kann damit arbeiten, wie er möchte.“

Die individuelle Nutzung wird von den Schülern nach Heusingers Erfahrung bei Google Drive stark angenommen. „Für die Schüler ist es ganz wichtig, dass es eine App gibt. Jedes Mal im Browser die Adresse aufrufen, Zugangsdaten eingeben etc. – das ist zu viel. Wenn es ein bisschen umständlich ist, wird es nicht gemacht, wenn man mal 10 Minuten im Bus oder im Wartezimmer hat. Dafür müssen Inhalte und Werkzeuge auch für das Smartphone optimiert sein.“ Usability und gute Aufmachungen sind wichtige Eigenschaften für Heusinger bzw. ihre Schüler. „Bei unserem Intranet früher oder bei Moodle wirkte die Umgebung für die Schüler schon an der Oberfläche verschult. Google Drive sieht so aus wie die Dinge, die sie auch privat nutzen. Der Workflow ist viel angenehmer.“

Blogs zu Skigebieten, Karten zu Kolumbien, Gedichte auf Pinterest

Die Methode zum „Reiseführer Madrid“ hat Monika Heusinger bereits in vielfachen Varianten durchgeführt. Dabei findet sich immer wieder das gleiche Vorgehen: Am Anfang stehen digitale Materialien oder eine Recherche im Web, danach müssen die gefundenen Informationen sortiert und aufbereitet werden, und drittens wird als Ergebnis ein kreatives digitales Produkt erstellt. Abschließend werden die Ergebnisse gemeinsam gesichtet und besprochen.

Auf diese Weise haben Heusingers Schüler schon im ersten Unterrichtsjahr einen Blog erstellt, in dem verschiedene Skigebiete vorgestellt werden. Oder sie unternahmen eine virtuelle Reise durch Kolumbien, in dem Informationen zu interessanten Orten als interaktive Landkarte angelegt wurden.

Eine Recherche zu den Comunidades Autónomas (den 17 Regionen Spaniens) wurde im 11. Jahrgang in Form von Plakaten umgesetzt. „Der Lehrplan sagt, wir sollen eine Region exemplarisch behandeln. Aber wir können mit dem Internet ja auch alle Regionen bearbeiten. Die Informationen sind ja da, und die Schüler können nach ihren eigenen Interessen recherchieren.“ Im Ergebnis entstand eine Sammlung von Plakaten, die für einen virtuellen Rundgang auf der Plattform Pinterest veröffentlicht wurden. Zur Erstellung nutzen die Schüler das Präsentationsprogramm Keynote und Fotos, die als Public Domain frei verwendbar sind.

Sreenshot von Pinterest (Bild steht unter keiner freien Lizenz)

Sreenshot von Pinterest (Bild steht nicht unter freier Lizenz)

Ähnlich ging Monika Heusinger vor, als sie fortgeschrittene Lernende in der Oberstufe Gedichte schrieben ließ. Auch hier war Pinterest für sie erste Wahl zur Veröffentlichung der Ergebnisse. „Für mich ist das eine super Plattform, um Produkte visuell ansprechend auszustellen. Früher hatten wir einen Rundgang in der Klasse, wo sich immer wieder alles gestaut hat. Jetzt können die Schüler sich mit dem Tablet in eine Ecke setzen und alles in Ruhe anschauen. Das entspannt die Situation sehr. Die Ergebnissichtung ist viel ruhiger und individueller möglich.“ Für die Nutzung von Pinterest gibt es einen gemeinsamen Account der Klasse. Die Sichtung der Ergebnisse ist ohne Anmeldung möglich.

Digital üben

Neben dem projekt- bzw. produktorientierten Lernen nutzt Monika Heusinger auch verschiedene Formen des webbasierten Übens. „Die Schüler arbeiten sehr gerne mit Quizlet, LearningApps oder Kahoot. Sie können im eigenen Tempo arbeiten und bekommen sofort ein Feedback. Die Schüler erfahren dabei auch, dass sie für das Lernen nicht immer einen Lehrer brauchen. Das befähigt sie auch zum lebenslangen Lernen. Sie nehmen ihren Lernprozess selbst in die Hand!“

Zeitung lesen ohne Rollkoffer

Eine beliebte Methode im Sprachunterricht ist die Lektüre von authentischen Texten, zum Beispiel von Artikeln aus Zeitungen oder Zeitschriften. Zum Nachschlagen von unbekannten Vokabeln fehlt dafür häufig eine Arbeitshilfe. Heusinger: „Meist arbeitet man mit Nachschlagewerken erst in der Oberstufe. Das sind dann dicke, schwere Wörterbücher. Wenn man zwei oder drei Sprachen lernt, braucht man alleine für die Wörterbücher schon einen Rollkoffer.“

Um dennoch die Arbeit mit Zeitungsartikeln zu ermöglichen, werden Originaltexte daher mit einem Vokabelapparat am Ende versehen – einer Liste der Begriffe, die wahrscheinlich erklärungsbedürftig sind.

Im Unterricht von Monika Heusinger können die Schüler anstelle des Vokabelapparats Wörterbücher im Web oder als App nutzen, entweder auf den iPads oder einfach auf den Smartphones, die sie ohnehin dabeihaben (und die deutlich leichter sind als ihre papierenen Äquivalente).

Selbstvertrauen dank digitaler Arbeitshilfen

Monika Heusinger findet das nicht einfach nur praktisch. Mit dem traditionellen Vorgehen hat sie drei Probleme: „Erstens macht die Erstellung eines Vokabelapparats viel Arbeit. Zweitens ist die Auswahl nie individuell genug, so dass Schüler oft sagen: ‚Ich kenne alles, was da steht. Aber das was ich brauchen würde, fehlt in der Liste.’ Und drittens suggeriere ich ein Defizit, in dem ich dem Schüler signalisiere: ‚Du kannst einen authentischen Zeitungstext nur lesen, wenn Du von mir die Vokabeln dazu bekommst.’”

Digitale Wörterbücher lösen für Monika Heusinger alle drei Probleme: „Es ist eine echte Zeitersparnis für mich. Ich vermeide viel Frust, denn ich muss nicht mehr antizipieren, wo die Schüler wohl Unterstützung brauchen könnten. Und schließlich lernen die Schüler, dass sie selbständig arbeiten können. Sie können prinzipiell jeden Zeitungsartikel lesen, und nicht nur die, die man ihnen aufbereitet vorgelegt hat.“ Damit ändert sich grundlegend auch die Auswahl der Texte für den Unterricht. Schüler können selbstbestimmt Texte lesen, die sie ihren individuellen Interessen entsprechend im Web finden.

Bei den sogenannten Ganzschriften, also vorrangig Romanen, sieht Heusinger einen weiteren Vorteil digitaler Texte: „In Materialien der Schulbuchausleihe oder Ganzschriften, die im Abitur verwendet werden dürfen, dürfen die Schüler keine Markierungen und Notizen machen – in digitalen Kopien geht das.“ Hinzu kommt, dass bei digitalen Lesegeräten und Apps ein Wörterbuch in der Regel integriert ist. Das Nachschlagen nimmt so nur noch einen Bruchteil der Zeit ein, die es im papierenen Wörterbuch benötigte.

Verabredungen per WhatsApp

Für Heusinger lassen sich Schulbuch und WhatsApp gut miteinander verbinden. Ein Klassiker des Fremdsprachen-Lernens ist die Verabredung mit anderen Menschen. Heusinger: „Das traditionelle Lehrwerk bietet den entsprechenden Input und schlägt dann als Hausaufgabe vor: ‚Schreibe einen Dialog, in dem sich zwei Personen verabreden!’“ Heusinger nutzt noch den ersten Teil, also den Input. „Dann gebe ich als Hausaufgabe: ‚Suche Dir über WhatsApp drei Mitschüler, mit denen Du Dich auf Spanisch verabredest! Lehne zwei Angebote ab und nimm das dritte an!’ Das kommt bei den Schülern viel besser an und führt zu deutlich längeren Dialogen. Es ist einfach authentischer!“

Zugriff auf die Welt

Die Arbeit mit authentischen Inhalten und für authentische Verwendungszwecke ist für Monika Heusinger ein Schlüssel für Fremdsprachen. „Das Lernen muss nicht in der didaktisierten Lehrbuch-Welt verbleiben. Ich habe Zugriff auf authentische Materialien. Ich habe Zugriff auf die Welt!“

Nicht nur über die Materialien will Monika Heusinger das Sprachenlernen näher am „echten Leben“ ausrichten. „Ich kann die fremdsprachliche Welt auch über Menschen in den Klassenraum holen, weil ich Zugriff auf ganz viele Muttersprachler habe.“ Über Videogespräche mit Muttersprachlern oder Kooperationsprojekte mit anderen Schulen können die Schüler nicht nur enger mit der Sprache, sondern auch mit der Alltagskultur anderer Länder in Kontakt kommen.

Der Unterricht mit digitalen Medien hilft Heusinger bei einer zentralen Herausforderung des Sprachenlernens. „Ich kann den individuellen Redeanteil enorm erhöhen. Ich kann die Sprechfähigkeit schulen, indem ich zum Beispiel Podcasts und Hörspiele produzieren lasse.“ Heusingers Fazit: „Mein Unterricht wäre ohne digitale Medien gar nicht mehr möglich. Das wäre ein enormer Verlust an Qualität und an Möglichkeiten, das Lernen individualisiert und kooperativ zu gestalten.“


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Monika Heusinger

Fächer
Spanisch und Französisch

Schule

  • Otto Hahn Gymnasium Saarbrücken (Saarland)
  • ca. 700 Schülerinnen und Schüler

Aufgaben in der Schule

  • Koordinatorin für den Einsatz der iPads
  • Vorsitzende der Fachkonferenz Spanisch

Berufsbiograhie

  • Studiendirektorin für die Fächer Spanisch und Französisch am Otto Hahn Gymnasium Saarbrücken
  • Fachleiterin für das Fach Spanisch am Staatl. Studienseminar des Saarlandes für die Sekundarstufen I und II an Gymnasien und Gemeinschaftsschulen
  • Teilabordnung als Dozentin für Fachdidaktik Spanisch an der Universität des Saarlandes

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Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.

Geschichte bedeutet immer Medien – Digitale Medien im Unterricht von Daniel Bernsen

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Daniel Bernsen (Foto: privat; Bild steht nicht unter freier Lizenz)

Classroom4.eu – ein multimediales, europäisches Schulbuch

Unter www.classroom4wiki.eu findet man ein Schulbuch zur europäischen Kulturgeschichte. Der Geschichtslehrer Daniel Bernsen gehört zum Gründungsteam der Online-Plattform. Die Überschriften der Artikel lauten zum Beispiel „Die Daguerrotypie – Einführung der Fotografie in Koblenz“, „Postzensur nach dem Ersten Weltkrieg“,  „Tasteninstrumente – eine Einführung“ oder „Portraitkünstler Januarius Zick (1737-1790)“. Es gibt Artikel auf Deutsch, Englisch, Französisch, Niederländisch und Spanisch. Was man auf den ersten Blick nicht unbedingt erkennt: Die Autoren der Inhalte sind Schüler aus verschiedenen Ländern Europas. Einige von ihnen stammen aus dem Eichendorff-Gymnasium Koblenz und haben ihre Essays im Leistungskurs Geschichte bei ihrem Lehrer Daniel Bernsen geschrieben.


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


Auf lokaler Ebene europäische Geschichte schreiben

Das großangelegte Projekt Classroom4.eu verbindet regionale und europäische Geschichte. Daniel Bernsen erklärt: „Schüler in Sek II recherchieren selbständig zur Geschichte ihrer Stadt, suchen nach den regionalen Verflechtungen in Europa und stellen die Ergebnisse in Form von Essays online.“ Am Anfang stand die Idee, das Ganze als europäischen Wettbewerb zu organisieren und die besten Schüler-Aufsätze in einem Buch zu veröffentlichen. Daniel Bernsen und seine Mitstreiter haben sich stattdessen für eine Website auf Wiki-Basis entschieden. „Wir sind relativ schnell auf die Vorteile eines interaktiven Online-Schulbuchs gekommen: 1. Es besteht keine Begrenzung hinsichtlich des Umfangs. Das ‚Buch’ kann also ständig erweitert werden, wobei insbesondere lokale, regionale oder nationale Sonderentwicklungen abgebildet werden können. 2. Über die Verlinkungen zwischen verschiedenen Artikeln wird unsere Grundidee abgebildet, Europa als einen über Personen vernetzten Kommunikationsraum darzustellen. Und 3. sind als Inhalte nicht nur Texte und Bilder, sondern perspektivisch auch Videos, Übungen oder Lernspiele denkbar.“

Fragen an die Geschichte

Daniel Bernsen nutzt das Projekt, um seinen Leistungskurs Geschichte zu Beginn von Jahrgang 11 an die Methoden des Fachs heranzuführen. „Da geht es um grundlegende Dinge: Wie funktioniert dieses Fach überhaupt? Wie recherchiere ich? Wie forsche ich? Wie schreibe ich? Das lässt sich sehr gut lernen, wenn man einen Essay für Classroom4.eu schreibt.“

Zu Beginn zeigt Bernsen den Schüler die Website, stellt ihnen die verschiedenen Themenbereiche vor und erklärt die Projektidee. Dann gibt er die Hausaufgabe: „Überlegt euch bis zur kommenden Woche, welches Thema euch so interessiert, dass ihr für vier Wochen dazu arbeiten wollt! Es muss zu einem der Themenbereiche auf der Website passen und einen Bezug zu eurem Wohnort haben.“ Die Schüler sollen auf diese Weise lernen, wie man Fragen an die Geschichte stellt.

In der nächsten Stunde werden die Themen gesammelt, angepasst und konkretisiert. Für die erste Recherchephase können sich Schüler zusammentun, die zum gleichen Oberthema arbeiten. Bernsen geht mit dem Kurs in den Computerraum. „Zunächst machen die Schüler eine allgemeine Recherche: ‚Was gibt es zu dem Thema? Was finde ich dazu in Bezug auf Koblenz?’ Häufig kommt dabei heraus, dass es zum lokalen Bezug keine Quellen online gibt. Dann müssen wir vor Ort in die wissenschaftliche Landesbibliothek gehen.“

Für den 11. Jahrgang bereitet Bernsen eine Einführung vor. „Wie geht das überhaupt mit der Recherche? Wie erstelle ich eine Bibliographie? Wie funktioniert die Bibliothek? Das erkläre ich möglichst so, dass die Schüler zum selbständigen Arbeiten befähigt werden. Oft buche ich dazu auch einen Termin in der Bibliothek.“ Außerdem unterstützt Bernsen die Schüler beim Erstellen eines Arbeitsplans: „Welche Schritte muss ich einplanen? Wie viel Zeit brauche ich dafür? Wie kann ich das in vier Wochen mit je vier Unterrichtsstunden umsetzen?“

Dann geht es an die eigentliche Arbeit. Aus dem Computerraum wird eine Mischung aus Bibliothek und Redaktion. Die Schüler sollen ihre Essays im Unterricht und nicht zu Hause schreiben, damit sie sich untereinander austauschen und Rückmeldungen von Lehrer Bernsen bekommen können. „Ich sehe das als Propädeutik. Unter Anleitung lernen die Schüler nicht nur etwas über ihr Thema, sondern vor allem über selbständiges und wissenschaftliches Arbeiten im Fach Geschichte.“

Am Ende der vier Wochen senden dann alle Schüler ihre Texte als Worddatei an Lehrer Bernsen, der sie überprüft und Rückmeldungen für eine Überarbeitungsrunde gibt. „Die Veröffentlichung auf der Website erfolgt nicht durch die Schüler selbst. Wir sehen uns da in der Verantwortung für die redaktionelle Sicherung. Und es ist mir wichtig, dass Schüler in ihrem Lernprozess nicht bloßgestellt werden.“

Nach der Überarbeitung können die Schüler entscheiden, ob sie den Text durch Lehrer Bernsen veröffentlichen möchten und ob sie ihren echten Namen dafür nutzen wollen. „Die Veröffentlichung ist freiwillig – aber bisher wollte jeder“, berichtet Bernsen. „Es gab nur einen Fall, in dem eine ehemalige Schülerin drei Jahre nach dem Abitur ihren Namen entfernt haben wollte. Obwohl die Arbeit exzellent war und ja auch ein Datum dabei stand, war sie der Meinung, dass der Text nicht mehr ihren Ansprüchen genüge. Dann haben wir den Namen entfernt.“

Alle Inhalte im Projekt Classroom4.eu werden unter einer Creative Commons Lizenz veröffentlicht, so dass sie als Open Educational Resources (OER) weiter nutzbar sind. Bernsen ist von der Grundidee des translokalen Ansatzes überzeugt, bei dem Schüler auf die Vorarbeiten aus anderen Jahrgängen und anderen Ländern zugreifen können. Schaut man heute auf die Website www.classroom4wiki.eu, so findet man vor allem Beiträge aus Schulen, die an der Gründung beteiligt waren. „Ich finde das schade“, bilanziert Bernsen, „und ich weiß noch nicht genau, woran es liegt, dass da wenig Resonanz kommt. Meine Vermutung ist, dass Themen und die Arbeitsweise den Lehrplänen entgegenstehen.“

Daniel Bernsen – Blogger und GPS-Gerät

Daniel Bernsen unterrichtet seit 2007 am Eichendorff-Gymnasium in Koblenz in den Fächern Geschichte, Spanisch und Französisch. Er koordinierte seit 2013 ein BYOD-Projekt in der 7. und 8. Klasse. Viele seiner Ideen und Erfahrungen teilt er, in wissenschaftlichen Publikationen oder im Netz. Dort führt er das Blog zum BYOD-Projekt (byodkoblenz.wordpress.com), bereits seit 2009 das Blog „Medien im Geschichtsunterricht“ (geschichtsunterricht.wordpress.com) und neuerdings auch ein Blog „Bildung, Netz & Politik“ (bipone.wordpress.com).

Wenn man Bernsen nach seinem Selbstverständnis als Lehrer fragt, zitiert er eine Metapher des kalifornischen Lehrers Aarons Sams: „Wenn das Lernen ein individueller Weg ist, dann übernimmt der Lehrer die Aufgabe eines GPS-Geräts. Er unterstützt den Lernenden bei der Erreichung des Ziels, indem er unterschiedliche Routen vorschlägt. Der Lernende kann den Vorschlägen folgen, er kann aber auch Abkürzungen und Umwege nehmen oder eigene Routen entwickeln. Wichtig ist, dass der Lernende nicht ‚per Anhalter’ oder ‚im Lehrerauto’ zum Ziel gebracht wird.“

Ende der Kopierschlachten

Daniel Bernsen erinnert sich daran, dass ihm im Referendariat ab 2002 immer wieder ein großes Wort vorgesetzt wurde: Binnendifferenzierung! „Das war so ein Zauberwort. Uns wurde in der Ausbildung gesagt, dass das ganz wichtig sei. Aber wie man es konkret macht, wurde uns nicht beigebracht. Man hat dann gelernt, dass es darum geht, möglichst viele verschiedene Materialien mit in den Unterricht zu bringen. Das waren wahre Kopierschlachten.“

Mit dem Einzug digitaler Medien sieht Daniel Bernsen ganz neue Möglichkeiten für die Binnendifferenzierung. „Wir können stark differenzieren, was die Lerninhalte angeht. Und wir können stark differenzieren, was die Lernprodukte und damit in der Folge auch was die Lernwege angeht. Digitale Medien helfen nicht bei der Individualisierung – sie ermöglichen die konsequente Individualisierung erst!“ Bernsen sieht die Konsequenzen der Digitalisierung nicht auf die didaktische Ebene begrenzt. „Solange man nicht die große Wahl zwischen Inhalten und Formen hatte, musste man auch nicht darüber nachdenken. Das kam erst mit dem Digitalen. Auch in der Arbeitswelt spielt das eine immer größere Rolle: Ich muss ständig entscheiden, in welcher Form ich etwas aufbereite. Schüler müssen alle Formen kennenlernen, um zu entscheiden, wann sie mit was gut lernen können. Damit werden auch Persönliche Lernumgebungen relevanter. Man hätte auch vor 20 Jahren darüber nachdenken können. Aber die Frage stellt sich erst jetzt, aus den Möglichkeiten heraus. Das ist auch eine Individualisierung des Lernen Lernens.“

Digitale Landkarte zum Ersten Weltkrieg

Bernsen hat Geschichtsprojekte mit digitalen Medien in vielfältiger Weise erprobt. „Die Struktur ist dabei immer gleich. Ich stelle ein Thema vor, das vom Lehrplan vorgegeben ist. Dann sammeln wir eigene Fragen zu diesem Thema, zum Beispiel einfach auf Papier an der Pinnwand. Wir clustern die Fragen und Schüler entscheiden sich, welche Aspekte sie bearbeiten möchten.“

Anschließend geht es um die Form, in der die Lernergebnisse präsentiert werden sollen. Bernsen fragt die Schüler, welche Form sinnvoll ist. „Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal ist es eine Zeitung, manchmal ein Comic. Wir machen Kurzfilme oder Fotogeschichten. Beliebt sind auch digitale Karten. Eine 8. Klasse kann zum Beispiel zum Thema Erster Weltkrieg historische Orte auf einer digitalen Landkarte markieren und an jedem Ort unterschiedliche Medien einbinden, die die Geschehnisse und Spuren dokumentieren.“

Aber woher nehmen die Schüler die Kompetenzen, entsprechende digitale Dienste und Werkzeuge einordnen und nutzen zu können? „Die Lernenden müssen altersgemäß mit den Eigenheiten der Erzählformen vertraut sein. Aber das ist nicht neu, sondern bereits heute fester Bestandteil vieler Unterrichtsfächer. Da müssen wir als Lehrer das Spektrum um die Möglichkeiten digitaler Erzähltechniken ergänzen. So kann die Entscheidung über die Form des Lernprodukts zunehmend in die Verantwortung der Lernenden gestellt werden.“

Die Entscheidung über Aufwand und Art der Recherche fällt Bernsen je nach Projekt und Vorkenntnissen der Schüler. „Manchmal reicht das Schulbuch als Grundlage aus. Bei anderen Projekten gehen die Schüler raus und suchen Denkmäler in Koblenz und recherchieren dort.“

Macht das nicht viel Arbeit, Herr Bernsen? „Natürlich ist Frontalunterricht mit Schulbuch einfacher und schneller. Wenn ich da eine Stunde einmal vorbereitet habe, brauche ich in den Folgejahren nur noch fünf Minuten Vorbereitung.“ Bernsen Urteil über die neuen Arbeitsformen fällt dennoch eindeutig positiv aus: „Es lohnt sich! Die Motivation der Schüler ist gesteigert, wenn sie nach eigenen Interessen arbeiten können. Das geht schon heute, in dem vorgegebenen Rahmen, auch mit 45-Minuten-Takt und Lehrplan. Es funktioniert gut – überraschend gut, denke ich manchmal.“

Geschichte – das heißt immer Medien!

Daniel Bernsen ist nicht nur Geschichtslehrer, sondern auch Fachberater für Geschichte im Schulaufsichtsbezirk Koblenz. Wenn man ihn fragt, wo denn die Verbindungen zwischen Geschichte und digitalen Medien liegen, wird Bernsen energisch: „Geschichte bedeutet immer Medien! Die Vergangenheit ist nicht direkt zugänglich, Geschichte ist immer nur medial vermittelt. Deswegen sehe ich eine hohe Affinität zwischen Geschichte und Medienbildung. Man muss sich zum Beispiel in beiden Fällen fragen: Ist diese Quelle vertrauenswürdig? Wie beurteile ich diesen Inhalt?“

Auch auf der didaktisch-methodischen Ebene hält Bernsen den Geschichtsunterricht für besonders geeignet, um digitale Medien einzusetzen. „Da steht oft ein Arbeitsauftrag im Zentrum, der den Schülern ein konkretes Produkt vorschreibt. Das sind im Geschichtsunterricht zum Beispiel das Verfassen eines Tagebuchseintrags, eines Protokolls oder eines Briefs, die schriftliche Beantwortung einer Frage oder das Anlegen einer Zeitleiste. Digitale Medien erweitern dieses Spektrum der möglichen Lernprodukte erheblich, gerade wenn es um das Narrative geht. Es können multimediale Zeitleisten, virtuelle Geschichtsausstellungen, Filmdokus, Geocaches erstellt, Wikiartikel, Online-Kommentare, Blogbeiträge etc. geschrieben werden. Das meiste davon ging schon vorher – aber jetzt sind Kreation, Veröffentlichung und Vernetzung deutlich einfacher geworden.“

Wie viele andere Lehrer sieht Bernsen Potentiale bei der Veröffentlichung von Lernprodukten. „Schule wird transparenter, das ist grundsätzlich begrüßenswert. Die Veröffentlichung kann auch die Motivation bei den Schülern steigern, denn sie arbeiten nicht mehr nur für den Lehrer.“ Allerdings warnt Bernsen davor, die Veröffentlichung als Selbstläufer anzusehen. „Die Motivation kann auch schnell in Frust umschlagen, wenn die Klicks ausbleiben und niemand die Ergebnisse bemerkt. Deswegen muss man gemeinsam mit den Lernenden eine Zielgruppe benennen und überlegen, wie man diese Gruppe erreichen kann.“

Internationale Partnerschaften

Wenn es um Zielgruppen für Lernprodukte geht, setzt Bernsen vor allem auf Partnerklassen und internationale Projekte. „Wir richten unsere Präsentationen zum Beispiel an einer Partnerklasse in Frankreich, England oder Spanien. Auch mit Polen, Aserbaidschan oder Kanada haben wir schon schon zusammengearbeitet.“ Am Anfang steht häufig eine Videokonferenz zum gegenseitigen Kennenlernen. Bernsen empfiehlt die Möglichkeiten der Plattform eTwinning, ein Netzwerk für Schulen in Europa, das in Deutschland vom Pädagogischen Austauschdienst organisiert wird.

„Die Motivation ist sehr hoch, wenn Schüler Ergebnisse für andere Schüler in anderen Ländern erarbeiten. Umgekehrt kommt dann auch etwas aus der anderen Schule zu uns. Solche Projekte sind nur digital möglich. Früher hat man manchmal ein Brief geschrieben. Das hatte einen ganz anderen Rhythmus, und direkte Zusammenarbeit war gar nicht möglich.“ Nach Bernsens Erfahrung laufen konkrete, überschaubare Projekte besser als große Partnerschaften mit vielen Beteiligten. „Die Koordination unter den Lehrkräften ist sehr aufwändig. Und manchmal ist die Zusammenarbeit auch recht unverbindlich. Gleichzeitig bietet sich inzwischen auch die Möglichkeit, Kooperationen auf Lehrerebene zu individualisieren.“ Bernsen findet viele Kontakte inzwischen auf Konferenzen oder über Twitter.

Französisch subversiv

Neben Geschichte unterrichtet Daniel Bernsen auch Französisch. In diesem Fach führt er häufig deutsche und französische Lerngruppen über digitale Medien zusammen – mitunter mit unerwarteten Folgen. „Ich hatte in Französisch eine Schülerin, eine sehr gute Schülerin. Als ich im 12. Jahrgang in ihren Hausaufgaben einen Fehler korrigiert hatte, war sie ganz außer sich. Sie war überzeugt, dass ihr Text richtig sein müsse. Als ich sie fragte, warum sie sich so sicher sei, kam folgende Geschichte heraus: In Jahrgangsstufe 11 haben wir immer ein Projekt, in dem eine Klasse bis zu zwei Monate lang mit einer Partnerklasse in Frankreich verbunden ist. Dabei arbeiten zwei Schüler aus Deutschland mit zwei Schülern aus Frankreich in einer Gruppe zusammen. Diese Schülerin hatte nun die Verbindung nach Frankreich auch nach dem Projekt fortgeführt. Sie hat seit 1,5 Jahren immer zusammen mit der französischen Schülern die Hausaufgaben in Französisch und Deutsch gemacht! Sie haben sich gegenseitig geholfen und einander Texte und Aufgaben korrigiert. Man sieht, dass Schüler das Internet auch eigenständig, ohne die Lehrkraft nutzen können. Das Netz hat geradezu ein subversives Potential für die Schule.“

Ein BarCamp im 45-Minuten-Takt

Bernsen erprobt neue Formen nicht nur beim Lernen mit digitalen Medien, sondern auch, wenn die Medien selbst zum Thema werden. 2014 hat er ein BarCamp im Unterricht durchgeführt, eingepasst in den gegebenen 45-Minuten-Takt. „In der 8. Klasse diskutierten wir darüber, wie krass die Heterogenität in Technikfragen waren. Da gab es einige, die quasi schon halbe Hacker waren, während andere nicht mal Dateien von einem USB-Stick öffnen konnten.“ Bernsen fiel auf, dass die Schüler sich in Technikfragen oft gegenseitig unterstützten und dass es nicht immer der Lehrer war, der die größte Expertise im Raum hatte. Deswegen entwickelte er die Idee für ein BarCamp im Unterricht.

Das BarCamp-Format, auch „Unkonferenz“ genannt, basiert darauf, dass das Programm gemeinsam von allen Anwesenden gestaltet wird und jeder selbst ein Angebot im Rahmen dieses Programms macht. „Beim Thema Computer sind alle Schüler zugleich auch Experten und können selbst ein Lernangebot für Ihre Mitschüler machen“, berichtet Bernsen. „Da war klar: Wir machen ein BarCamp!“

Das BarCamp wurde in insgesamt sechs Unterrichtsstunden umgesetzt, die sich auf drei Wochen verteilten. In der ersten Stunde wurden die Themenwünsche ermittelt. Jeder Schüler schrieb anonym auf, welche Probleme er in letzter Zeit mit digitaler Technik hatte, die er selbst nicht lösen konnte. Auch weiterführende Fragen waren willkommen. Bernsen sammelte die Vorschläge ein, fasste ähnliche Fragen zusammen und erstellte daraus eine Themenliste.

In der zweiten Stunde erklärte Bernsen seinen Schülern die Methode BarCamp. Jeder Schüler sollte (alleine, zu zweit oder zu dritt) zu einem Thema aus der Themenliste einen kleinen Workshop vorbereiten. Bernsen war selbst etwas überrascht, wie gut das funktionierte. „Die vorbereitete Themenliste war sehr hilfreich. Einzelne Schüler waren zunächst der Meinung, dass sie gar keinen eigenen Beitrag liefern könnten. Dann hat aber jeder in der Liste ein Thema gefunden, zu dem er einen Workshop vorbereiten konnte.“

Die Vorbereitung der Workshops erfolgte in den Stunden drei und vier individuell bzw. mit der Kleingruppe. Dabei machte Bernsen keine Vorgaben zur Form. „Manche haben einen kleinen Vortrag erarbeitet, andere eine Diskussionsrunde vorbereitet oder eine praktische Anleitung erstellt. Um die Orientierung zu erleichtern, habe ich eine Liste mit Arbeitsschritten verteilt.“

Die einzelnen Arbeitsschritte (Bild nicht unter freiner Lizenz)

Die einzelnen Arbeitsschritte (Bild nicht unter freiner Lizenz)

 

In der dritten Woche fand dann in den Stunden fünf und sechs das BarCamp statt. Bernsen hatte die Themen in einem Zeitplan verteilt, dass für jeden Workshop ca. 20 Minuten Zeit waren und dass drei oder Workshops parallel stattfanden. „Das hat sogar in einem Raum funktioniert, in dem die Workshops je in einer Ecke stattgefunden haben. Wir haben dabei auch eine Grundregel des BarCamps umgesetzt: Jeder konnte den Workshop wechseln, wenn ihn das Thema nicht mehr interessierte.“

Der Themenplan (Bild steht nicht unter freier Lizenz)

Der Themenplan (Bild steht nicht unter freier Lizenz)

 

Bernsen bewertet das BarCamp im Unterricht als vollen Erfolg. „Die Rückmeldungen der Schüler waren überwältigend! Jeder hat selbst etwas gelernt – und zwar zu den Themen, die ihn besonders interessierte haben. Und mindestens genau so wichtig: Jeder Einzelne hat sich selbst als kompetent erlebt.“


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Daniel Bernsen

Fächer
Geschichte, Französisch, Spanisch

Schule

  • Eichendorff-Gymnasium Koblenz (Rheinland-Pfalz)
  • ca. 900 Schülerinnen und Schüler
  • Zwei Profilschwerpunkte: Musik und UNESCO-Projektschule

Aufgaben in der Schule

  • Jugendmedienschutzbeauftragter
  • Klassen- und Stammkursleiter
  • Koordinator BYOD-Projekt (2013-2015)

Berufsbiograhie

  • 1995-2001 Studium in Bonn, Brüssel und Münster, Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung
  • 2002-2004 Referendariat am Studienseminar Trier
  • 2004-2007 Lehrer am St. Willibrord-Gymnasium Bitburg
  • Seit 2007 Lehrer am Eichendorff-Gymnasium Koblenz
  • Seit 2011 zusätzlich: Regionaler Fachberater für das Fach Geschichte im Schulaufsichtsbezirk Koblenz

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Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.

Personalisiertes Lernen in Blog-Projekten – Digitale Medien im Unterricht von Lisa Rosa

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Lisa Rosa (Foto: Andreas Körber; Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Lisa Rosa (Foto: Andreas Körber; Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

 Projekttag 1:  Die eigene Frage finden in der KZ-Gedenkstätte

Das große Blogprojekt in der Projektwoche der Hamburger Zwölftklässler beginnt offline, an einem physischen Ort: der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Ein Guide der Gedenkstätte hält keinen langen Vortrag, sondern übernimmt eine besondere Rolle. Sie hilft bei der Orientierung: „Wo sind wir? Was gibt es hier? Was findet man wo in der Gedenkstätte?“ und begleitet danach die Schüler als „Guide by the side“, indem sie sich auf Anfrage zur Beratung zu Verfügung hält. Denn die Schüler erkunden das Gelände selbständig nach eigenen Interessen. In kleinen Gruppen ziehen sie los und haben als Arbeitsauftrag nur: „Fotografiert alles, was Euch besonders anspricht, ob positiv oder negativ.“


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


„Stimulated Recall“ nennt sich diese Methode, die zwei Stunden später in die nächste Phase geht: Die Schüler kommen im Plenum wieder zusammen. Jeder muss sich für ein Foto entscheiden, das er am Beamer zeigt und zu dem er erklärt, was ihn daran berührt, aufgeregt, geärgert oder irritiert hat. Das Foto stimuliert dabei alle seine Gedanken, die er dazu hatte und die Gespräche, die die kleine Gruppe an diesem Ort vielleicht darüber geführt hat. Lisa Rosa moderiert den Lernprozess. „Jeder Schüler bzw. jede Kleingruppe ein Foto – das dauert natürlich. Aber es ist wahnsinnig produktiv! Hier wird die Grundlage für das Lernen mit dem Blogprojekt entwickelt: die eigene Fragestellung.“ Denn die Schüler werden mit anderen Perspektiven konfrontiert:  Sie erfahren andere Sichtweisen zu ihren eigenen Gedanken und haben die Möglichkeit, sie in Frage zu stellen, zu differenzieren oder zu korrigieren.

Die Moderatorin sammelt und visualisiert die Kernpunkte der Fragen und Statements. Für jeden Schüler schreibt sie eine Moderationskarte und sortiert sie: Handelt es sich um eine Frage zum Gegenstand erster Ordnung, also dem Konzentrationslager und den Ereignissen in der NS-Zeit? Oder ist es eine Frage zum Gegenstand zweiter Ordnung, also zur Nachgeschichte, zur Geschichte der Gedenkstätte oder zur Erinnerungspolitik? Das wichtigste dabei ist, dass die Fragen echte eigene Fragen sind, die aus der Beziehung der eigenen Person zum Gegenstand entstehen und nicht – wie so oft in Schule – einem vermeintlich sachlogischen Fragenkatalog entstammen nach dem Muster „Was könnte oder müsste man hieran eigentlich lernen?“ Stattdessen steht „Was will ich hier lernen?“ im Zentrum.

Die Schüler werden beim Ausformulieren ihrer persönlichen Fragen und dem daraus folgenden Arbeitsvorhaben individuell beraten. Danach stellen sie ihre Fragen und Arbeitsvorhaben im Plenum vor. Dabei besteht bei großen Gruppen die Möglichkeit, ähnliche Fragen in einer gemeinsamen Formulierung zusammenzufassen und Tandems oder kleine Teams zu bilden, die sich gemeinsam der Bearbeitung widmen. Damit ist die Grundlage gelegt. Für die nächsten beiden Tage der Projektwoche wird jeder Schüler bzw. jedes Tandem oder Team an seiner eigenen Fragestellung zum Thema arbeiten. Dabei wird ein gemeinsames Blog entstehen, in dem Schüler Antworten auf ihre Fragen präsentieren, die auch von Menschen außerhalb der Schule gelesen und kommentiert werden können.

In den letzten beiden Tagen arbeiten die Schüler als Gesamtgruppe daran, ihre Erfahrungen zum Lerngegenstand und zur Arbeit mit dieser Methode auszutauschen und eine geeignete Präsentation in der Schule zu entwerfen und auszuarbeiten. Am Ende der Projektwoche werden die Schüler im Feedback sagen: „Das Beste war, dass wir an unseren eigenen Fragen gearbeitet haben. Das Zweitbeste war, dass wir ‚in echt’ geschrieben haben, in einem öffentlichen Blog, den ‚echte’ Leute gelesen und kommentiert haben.“

Zusammenarbeit von Lehrenden

Das Projekt des Geschichtskurses im Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium ist bereits auf der Ebene der Lehrenden auf Kollaboration ausgelegt. Wochen vor dem Start haben sich die Geschichtslehrer Boris Steinegger und Stefanie Voigtsberger, die Guide Rosa Fava vom Museumsdienst sowie Lehrerin und Fortbildnerin Lisa Rosa zusammengesetzt, um das Projekt zu planen. Ziemlich schnell war man sich über die Eckpunkte klar. „Es braucht dann noch eine geschickte Organisation für die Prozess-Struktur“, sagt Lisa Rosa.

Lisa Rosa war 20 Jahre lang Lehrerin für Musik, Politik und Geschichte, zunächst an einer Gesamtschule in Westberlin, dann an einem Hamburger Gymnasium. Seit 2005 arbeitet sie am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. Ihre Themen: Demokratielernen, Projektlernen, Lernen in der Wissensgesellschaft, Lernen 2.0. „Das gehört für mich alles sachlich zusammen!“, sagt sie. „Und wenn es auch in der Lernprozess-Gestaltung zusammenkommt, ist es für mich der Königsweg.“ Regelmäßig entwickelt und erprobt sie ambitionierte Konzepte mit Lehrern an Hamburger Schulen. Ihr Blog „shift. Weblog zu Schule und Gesellschaft“ (shiftingschool.wordpress.com) und umfangreiche Aktivitäten via Social Media bescheren Lisa Rosa immer wieder Einladungen für Vorträge und Interviews.

Projekttag 2: Ein gemeinsames Arbeitsvorhaben entwerfen

Der zweite Tag der Projektwoche beginnt mit Tipps der Expertin. Die Gedenkstätten-Guide gibt einen Überblick: Wo finde ich geeignete Materialien zu meiner Frage? Worauf sollte ich bei der Recherche achten?

Dann bilden die Schüler Tandems, die gemeinsam arbeiten. In Ausnahmefällen können sie sich auch zu dritt oder viert zusammentun. Dafür muss die eigene Frage mit den persönlichen Fragen anderer zusammengebracht werden. Für Lisa Rosa ist das eine methodische Herausforderung. „Manche Schüler wollen lieber mit bestimmten anderen Schülern zusammenarbeiten. Das ist bei Erwachsenen ja auch nicht anders. Da muss der Lehrer gut beraten, damit die persönliche Frage nicht zugunsten einer gewünschten Zusammenarbeit untergeht.“

Die Schüler arbeiten immer noch an der Gedenkstätte – jetzt in den Ausstellungen und Archiven. Da das Blog nur zur Kommunikation der fertigen Arbeitsprodukte dient, spielt es auch am zweiten Tag noch keine Rolle.

Digital bedeutet nicht automatisch motiviert

Lisa Rosa hält es für einen Irrglauben, dass Schüler alleine dadurch zu begeistern sind, dass sie irgendein Projekt mit digitalen Medien machen können. „Sie hatten das Projekt nicht frei gewählt. Sie wussten, dass sie viel schreiben müssen – das war auch für die Abiturvorbereitung wichtig. In der Vorbesprechung kam da keine Begeisterung auf. Aber das Feedback am Ende war ganz klar. Die Schüler sagten: ‚Am Anfang hatten wir keine Lust drauf. Aber dann wurde es sehr spannend und produktiv!‘“

Projekttag 3: „Das ist Euer Blog“

Am dritten Tag ist es so weit. Lisa Rosa steht neben der Leinwand und zeigt: „Das ist Euer Blog!“ Für die Einführung in das Blog wird die Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Hälfte bekommt vormittags die Einführung, die andere arbeitet weiter an ihren Arbeitsvorhaben. Am Nachmittag geht es entsprechend umgekehrt weiter. Für Lisa Rosa ist klar: „Du musst etwas vorbereiten, ein echtes Blog, nicht nur eine leere Standardvorlage. Dann gibt es Begeisterung. Du musst den Schülern sagen: ‚Ihr könnt hier im Blog alles verändern!‘ Sofort gibt es die ersten Verhandlungen untereinander. Als erstes: ‚Wir wollen das Headerbild verändern.‘ Schüler haben eines ihrer eigenen Fotos in den Kopf der Website hochgeladen.

Die Schüler erproben erste Artikel im Blog, meist kürzere Texte. In dieser Phase beobachtet Lisa Rosa immer wieder Aha-Momente. „Den Schülern wird schnell klar: ‚Das kann jetzt jeder lesen!‘ Dann wollen sie ihre Inhalte überarbeiten und verbessern.“

Das Ganze funktioniert, weil tatsächlich Menschen „aus der echten Welt“ das Blog besuchen und kommentieren. Lisa Rosa hat das Interesse über ihr persönliches Netzwerk auf Twitter und ihrem eigenen Blog organisiert. Und so stehen plötzlich Kommentare mit Fragen und Tipps unter den Artikeln der Zwölftklässler. „Da waren die Schüler platt. Es hat sie so motiviert, dass manche sogar noch nachts gearbeitet haben.  Wichtig war, dass alle Schüler als Administratoren ins Blog eingepflegt wurden. Das bedeutet, jeder hatte alle Rechte, alles im Blog zu verändern. Bei dieser Gruppe führte das zu einem besonders hohen Verantwortungsbewusstsein und zu einer besonders intensiven Kollaboration.“

Projekttag 4: Bloggen

Die Arbeit an den eigenen Texten geht am nächsten Tag weiter. Der Lehrer beantwortet Fragen, berät und unterstützt bei allen Arbeiten. Es werden kurze Rücksprachen mit der Guide der KZ-Gedenkstätte gehalten. Dabei wird auch geklärt, dass Fotos aus der Gedenkstätte im Blog veröffentlicht werden können.

Die Schüler schreiben ihre Artikel in einer Textverarbeitung und lesen sie zunächst gegenseitig Korrektur. Dann veröffentlichen sie ihre Texte nach und nach im Blog und kommentieren sich zunächst gegenseitig. . Der Computerraum wird zur Blogwerkstatt.

Der Lehrer als Beobachter und Coach

Was macht eine Lehrerin eigentlich, wenn 26 Schüler den ganzen Schultag über selbstständig arbeiten? Lisa Rosa sagt: „Wenn ich Menschen erlaube, individuell zu lernen, sind sie in der nächsten Minute schon auseinander und brauchen einzelnes oder Team-Coaching. Die gute Botschaft ist: Die machen alleine schon ganz viel richtig. Da habe ich die Zeit und kann rumgehen und gucken, wer was braucht. Ich notiere mir, was ich fürs nächste Zusammentreffen für wen mitbringen muss.“ Derweil ist für Lisa Rosa hoch individuelle Beratung vor Ort angesagt. „Der eine braucht nur eine Ermunterung, auch mal einen langen Text zu lesen. Eine Gruppe kämpft noch damit, ihre Fragestellung in eine bearbeitbare Form zu bringen. Oder ich merke, dass noch für viele wichtige  Grundlagen fehlen, die ich in der nächsten Plenumszeit nachliefern muss. Die Sache kann so dringlich sein, dass gleich jetzt eine Ansage für alle zwischengeschaltet werden muss. Man muss dafür sehr wach sein, denn vieles ist nicht planbar! Wenn die Schüler selbstständig und an individuellen Fragen arbeiten, heißt das nicht, dass man sich zurücklehnen oder verdrücken kann.“

Projekttag 5: Das Projekt geht offline on-line

Am letzten Tag der Projektwoche macht sich die Klasse Gedanken über die Präsentation des Projektes für den Tag der offenen Tür der Schule. Lisa Rosa: „Die erste Idee ging in die Richtung, Monitore im Schulgebäude aufzustellen. Das wurde verworfen, denn dort könnte man sich die Blog-Texte nicht in Ruhe anschauen. Also mussten die Schüler andere Formen finden.“ Die Kunstlehrerin kommt mit eigenen Vorschlägen dazu. Die Schüler wollen die Adresse des Blogs bekannt machen, also wird die Adresse als riesige Buchstaben aus Styropor ausgeschnitten und im Foyer der Schule von der Decke gehängt. Außerdem setzen die Schüler ihr Online-Projekt ins Physische um. Die Artikel werden einzeln ausgedruckt und auf eine großen Leine („on line“) im Treppenhaus aufgehängt, so dass auch Offliner sie sehen können.

Blogprojekt offline (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Blogprojekt offline (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Materialien für das Blogprojekt (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Artikelkette für das Blogprojekt (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Artikel des Blogs in Papierform (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Artikel des Blogs in Papierform (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Lisa Rosa ist begeistert, wenn sie von der Motivation der Schüler berichtet. „Einige Gruppen erarbeiten Plakate, die in der Ausstellung im Schulgebäude in die einzelnen Themen einführte. Für einige war die Statistik, welche Artikel wie oft aufgerufen wurden, ein großer Anreiz, so dass sie sich bemühten, durch weitere Posts und Verbesserungen der Texte noch höhere Klickzahlen zu bekommen. Eine Schülerin, die gerade zum Austausch in Texas gewesen war, wollte das Blog unbedingt ihren Freunden in Texas vorführen. Also hat sie einen einführenden Text in Englisch verfasst. Alle haben dabei ihr Lernen vertieft, weil sie den Inhalt noch einmal in eine neue Form bringen mussten, die sich an konkrete Adressaten richtete.“

Am Abend nach dem Tag der offenen Tür gibt es dann einen großen Ansturm auf die Website. Und natürlich neue Artikel im Blog, in denen Fotos von den Aktionen in der Schule veröffentlicht werden.

Mit Engagement arbeiten für das Blogprojekt (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Mit Engagement arbeiten für das Blogprojekt (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Präsentation des Blogprojekts (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Präsentation des Blogprojekts (Bild steht nicht unter einer freien Lizenz).

Personalisierung statt Individualisierung

Für Lisa Rosa wird der Begriff der Individualisierung für das Lernen häufig falsch interpretiert. „Der Begriff der Individualisierung ist oft nicht durchdacht. Man geht davon aus, dass das Lernziel festgelegt ist und der Weg dorthin individuell beschritten wird. Die Schüler werden häufig auf dem Lernweg alleine gelassen. Dabei brauchen die Lernenden doch gerade bei den Wegen Unterstützung. Genau das sollte doch unsere Expertise als Lehrer sein!“

Lisa Rosa bevorzugt den Leitbegriff des personalisierten Lernens. „Personalisierung heißt nicht, dass ich mir Fragen aus dem Katalog des Lehrers aussuche. Personalisiertes Lernen heißt, dass ich an Fragen arbeite, die tief im Inneren für mich Bedeutung haben. Das bedeutet zwangsläufig, dass das Ergebnis des Lernens nicht vorher festgelegt ist. Die Lernende müssen IHRE Lösung finden auf Fragen, die für sie Bedeutung haben. Die komplizierten Wege dorthin, die Arbeitsmethoden, die Auf- und Abs in Motivation und Zuversicht, die muss der Lehrer professionell anregen und fördernd begleiten.“

Personalisiertes Lernen bedeutet für Lisa Rosa nicht Vereinzelung. Die Schüler arbeiten individuell, in Tandems oder in kleinen Gruppen. Jeder Lernende muss zu den Fragen arbeiten, die ihn persönlich interessieren, wobei es stets einen großen komplexen Gegenstand als verbindendes Dach gibt. „Nur so lässt sich immer wieder die Gemeinsamkeit herstellen, auf die man im Plenum eingehen kann. Nur so funktioniert es, dass Lernende sich etwas zu sagen haben und ihre eigenen Perspektiven mit den Perspektiven der Anderen konfrontieren können. Auch das braucht es ja für das Lernen. Ohne Dialog geht es überhaupt nicht. Diese Konfrontation muss der Lehrer organisieren.“

Projekt „Migration und Integration“

Lisa Rosa hat große Blogprojekte auch mit anderen Schulen erprobt. „Es braucht nicht immer eine Projektwoche. Und es muss auch nicht eine Schülergruppe in einem Gymnasium sein. Wir machen das auch in der Stadtteilschule Bahrenfeld, die hat Sozialindex-Stufe 3.“ (In Hamburg gibt es die Stufen 1 bis 6, wobei 6 für die beste soziale Lage steht.)

In der Stadtteilschule Bahrenfeld hat Lisa Rosa zusammen mit dem Lehrer Max von Redecker ein Blogprojekt über 20 Wochen hinweg in den regulären Unterricht eines Profilkurses integriert. Dafür wurden in Jahrgang 12 die Stunden für Geschichte, Kunst und das sogenannte Seminarfach genutzt. Das Thema aus dem Lehrplan lautete: Migration und Integration. „Als wir den Schülern das Thema genannt haben, waren die alles andere als begeistert. ‚Schon wieder?‘, haben die gefragt“, berichtet Lisa Rosa. „Und wir haben gesagt: ‚Ja. Aber dieses Mal mit euren eigenen Themen!‘“

Ein vorbereitetes Blog als Materiallager

„In diesem Fall haben der Lehrer und ich vorab ein Blog als vorbereitete Materialsammlung erstellt. Das ist riesig, ein überbordendes Lager“ erklärt Lisa Rosa. „Davon können die Schüler sich inspirieren lassen. Natürlich können sie auch selbst Material darüber hinaus suchen und das in den Materialpool hochladen.“

Die Grundannahme für den Einstieg ins Thema lautete: Jeder hat einen Migrationshintergrund. In der ersten Stunde des Projektes zeigt Lehrer Max von Redecker seinen eigenen Stammbaum und erzählt die Geschichte seiner Familie. „Danach macht er erst einmal nichts“, schildert Lisa Rosa. „Er steht nur da und wartet. Dann erzählen die Schüler entweder ihre eigenen Geschichten oder äußern Gedanken zum Gegenstand und erklären ihr Wissen. Und der Lehrer protokolliert das auf Karten, um die Beiträge festzuhalten und beim Anpinnen zu strukturieren.“

In der zweiten Stunde werden Fragen gesammelt, kollaborativ in einem Etherpad. Anschließend geht es wie im Gedenkstätten-Projekt darum, persönliche Fragen zu identifizieren und Arbeitsvorhaben dafür zu entwerfen. Die Schüler schreiben im Verlauf der 20 Wochen drei Texte: ein Abstract zum Vorhaben, einen Fachartikel und eine abschließende Reflexion zum Lernprozess. Alle drei Texte werden benotet.

„In diesem Projekt wurde selten zu zweit und fast immer alleine gearbeitet. Die Fragestellungen waren zum Teil sehr persönlich“, berichtet Lisa Rosa. Der Computerraum wird zur stillen Werkstatt: Die Schüler sitzen vor ihren Rechnern, lesen, verarbeiten, schreiben. „Wenn das gut läuft, dann wollen die Schüler gar nicht aufhören. Die Schulklingel kann man dann vergessen! Der Lehrer muss aufpassen, dass das zeitlich passt.“

Überhaupt sieht Lisa Rosa gerade bei der selbständigen Arbeit den Lehrer in der Verantwortung. „Die Schüler müssen ja nicht nur undidaktisiertes Material zusammentragen und durchlesen. Wenn sie das noch nie vorher gemacht haben, weil ihnen alles immer schon zugeschnitten vorgesetzt wurde, dann können nicht von selbst wissen, wie sie Texte sinnvoll auswerten und wie sie Antworten auf ihre Fragen bekommen. Das muss man ihnen zeigen – entweder im Plenum oder einzeln im Coaching.“

Die Bedeutung des Plenums

„Je größer der Anteil der Einzelarbeit ist, desto mehr müssen wir darauf achten, dass es Zusammenarbeit gibt und dass am Ende ein gemeinsames Ergebnis da ist.“ Dafür hat Lisa Rosa im Projekt das „Zwischenstandsplenum“ vorgesehen. Die Schüler sind noch mitten im Arbeitsprozess und holen mal Luft und schauen sich an, wie weit ihre Vorhaben gediehen sind. Noch sind Korrektur und Umkehr aus Sackgassen gut möglich. Hier holt man sich neue Motivation und neue Aspekte für das eigene Thema. Es findet ein intensiver Austausch statt, sowohl zu inhaltlichen wie zu methodischen Fragen.

Allerdings muss es für Lisa Rosa nicht immer der Lehrer sein, der den Schülern Dinge erklärt. „Wir haben die Peer-Beratung eingeführt. Die Schüler haben sich im Plenum gegenseitig vorgestellt, was sie machen und gegebenenfalls auch ihre Probleme damit geäußert. Die anderen Schüler mussten sich da reindenken und reinfragen. Das ist ein gegenseitiges Lerncoaching. Wenn man den Schülern zeigt, wie das funktioniert, dann ist das wahre Kollaboration!“

Auch das gemeinsame Produkt am Ende ist wichtig. Zum Projektabschluss verwandelten die Schüler aus ihren Einzelaspekten ein Theaterstück zum Gegenstand Migration-Integration, das öffentlich aufgeführt und als Video im Blog veröffentlicht wurde. Anschließend mussten sie einem großen Publikum von Erwachsenen Rede und Antwort zum Gegenstand, zu ihren Positionen und zur Qualität ihres Stückes stehen.

Wirtschaftswachstums-Dilemma

Mit einem analogen Vorgehen haben Lisa Rosa und Max von Redecker auch das Thema Wirtschaftswachstums-Dilemma bearbeitet. An diesem Beispiel macht Lisa Rosas deutlich, dass es nicht unbedingt die Textform sein muss, die im Ergebnis dominiert. „Wir hatten hier eine enorme Vielfalt. Eine Schülerin hat ein eigenes Video-Blog ‚Selbstversuch vegan leben“ geführt, andere haben Raptexte geschrieben und aufgenommen, andere Comedyformen erprobt oder eben auch eine 17-seitige Facharbeit geschrieben.“

In diesem Projekt gibt es mündliche Noten für Kommentare zu den Artikeln von Mitschülern. Lisa Rosa kann von überraschenden Folgen berichten: „Ein Schüler, der unbedingt seine Note verbessern wollte, hat über die Osterferien 60 Artikel gelesen und kommentiert. Ich denke, das ist eine legitime Motivation. Solange es Noten gibt, müssen wir sie als Lernmotiv honorieren.“

Kulturzugangsgeräte ohne Schulfilter

Welche Rolle spielt das Internet beim Projektlernen? Ginge vieles davon nicht auch offline? Lisa Rosa: „Projektlernen geht grundsätzlich auch ohne digitale Medien. Aber vor allem Personalisierung und ‚Kollaborativisierung’ gehen nur mit Social Media! Man braucht ein offenes Netz für die Beschaffung von Ressourcen. Das Internet bietet nicht nur didaktisiertes und kleingehacktes Material, sondern alles, die echte Welt in ihrer ganzen Vielfalt!“

Und was braucht es dafür im Klassenraum? „Das ist eigentlich einfach,“, sagt Lisa Rosa. Es braucht einen Beamer, damit man gemeinsam Sachen anschauen und besprechen kann. Es braucht ein  Kulturzugangsgerät, also Computer mit Internetzugang – und zwar für jeden einzelnen Schüler einen eigenen und ständigen Zugang, sonst kann er nicht wirklich personalisiert arbeiten. Und ganz wichtig für die Schulen: Es braucht einen ungefilterten Zugang. Unsere Projekte waren nur möglich, weil jemand den Schulfilter abstellen konnte. Mit den Standardeinstellungen in den Hamburger Schulen wäre die ganze Arbeit nicht möglich gewesen! Die Schüler müssen teilweise nach Hause gehen, um Bilder hochladen zu können. Oder man muss mit dem eigenen Smartphone einen Zugang schaffen, um überhaupt vernünftig arbeiten zu können. Diese Schulfilter sind die totale Entmündigung! Und sie bilden leider auch für die meisten Lehrer so hohe Verkomplizierungen ihrer eh schon komplizierten Arbeitsbedingungen, dass schon allein deswegen die meisten gar nicht erst ausprobieren wollen, mit den Social Media-Formen zu arbeiten.“

Dokumentation und Materialblog

Nicht nur die Blogprojekte der Schüler sind weiterhin online zu finden. Auch die parallelen Materialblogs zu den Projekten „Migration und Integration“ und „Wachstum“ stehen zur Verfügung. Die kompletten Blogs können als Steinbruch und Materiallager für eigene Projekte genutzt werden. Das Migration-Integration-Materialblog wurde außerdem anlässlich der Flüchtlingskrise aktualisiert und mit neuen Materialien ergänzt. Durchführung der Blogprojekte und Prinzipien der Projektmethode wurden in gedruckten Lehrerhandreichungen dokumentiert, die inzwischen in vierstelligen Auflagen nachgefragt wurden (vgl. Links im Infokasten).

Aufwand, Effektivität und Effizienz

Neue Wege, intensive Vorbereitung, Zusammenarbeit mit mehreren Lehrern, widrige Technologien – lohnt sich dieser Einsatz am Ende, Frau Rosa? „Ja, das ist ein großer Aufwand. Man muss das gut vorbereiten, ständig reflektieren und wach sein. Aber wenn man das erst einmal hat, dann hat man in der Schule viel mehr Zeit als in einem Unterricht, bei dem man jede Stunde vortanzen muss. Die Lernarbeit machen ja die Schüler.“ Lisa Rosa empfiehlt, es einfach auszuprobieren. Es gibt nur eine Einschränkung: „Das geht nicht, wenn man keine Freude daran hat. Aber es klappt! Der Unterricht macht sogar viel mehr Spaß. Und er ist nicht so erschöpfend, wie wenn man ständig selbst vortragen oder Disziplin einprügeln oder Schüler ‚aktivieren’ muss.“

Und was kommt am Ende dabei raus? „Das Projektlernen wie in den Blogprojekten ist keine ‚Effizienz-Methode’ – aber es ist unglaublich effektiv!  Die Schüler erwerben alle möglichen Skills, die im 21. Jahrhundert zu den wesentlichen Lernzielen zählen. Und man erreicht gleichzeitig ein deep learning zum Gegenstand. Das ist kein Widerspruch! Es ist ein Vorurteil, dass man sich zwischen Soft Skills und Hard Skills als Lernziel entscheiden muss. Im Gegenteil! Man kriegt am besten beides zusammen. Dafür braucht es eine geschickte und kluge Lernorganisation. Projektlernen in Kombination mit digitalen Medien ist bisher das Beste, was ich dafür gefunden habe.“


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Lisa Rosa

Fächer
Lehrerbildung; Geschichte, Politik

Schule
Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg

Aufgaben in der Schule

Berufsbiograhie

  • 20 Jahre Musik-, Politik-, Geschichtslehrerin an Gesamtschule (Westberlin) und Gymnasium (Hamburg)
  • seit 2005 Unterrichtsentwicklung und Lehrerfortbildung in Hamburg
  • Demokratie- und Projektlernen, Lernen in der Wissensgesellschaft, Lernen 2.0
  • Zusammenarbeit mit diversen Hamburger Schulen und verschiedenen KollegInnen in ihrem Unterricht

Links

https://migrationintegration.wordpress.com
https://ewgprojektblog.wordpress.com
https://mehristweniger.wordpress.com


Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.


Eine Verbindung in die Welt – Digitale Medien im Unterricht von Christiane Schicke

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Christiane Schicke

Christiane Schicke (Foto: Ina Schicke. Das Bild steht unter einer CC BY 4.0 international Lizenz.)

In der Kiebitzklasse

Wenn man die Kiebitzklasse in der Inselschule Langeoog besucht, dann kann es sein, dass die Drittklässler gerade höchst unterschiedliche Dinge machen. Sie arbeiten an ihrem Wochenplan, für den Lehrerin Christian Schicke ihnen verschiedene Aufgaben gegeben hat. Schicke setzt analoge Lernbausteine gleichberechtigt zu Übungsprogrammen im Web, als Apps oder auf CD-ROM ein. Manche Kinder vertiefen ihr Zahlenverständnis mit der Mumin-Mathe-App, andere üben Rechtschreibung mit den Deutschpiraten. Dabei setzt Schicke Schüler als Multiplikatoren ein: „Wenn einzelne Kinder bestimmte Programme beherrschen, dann kann man andere Kinder dazu setzen, die sich das abgucken oder erklären lassen.“


Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …


Am interaktiven Whiteboard hüpfen Schüler bei einer Matheübung von Lösung zu Lösung. „Das ist ein guter Lernort für Kinder, die gerade mal viel Platz brauchen“, sagt Schicke. Manche Schüler üben mit der Grundschrift-App noch Buchstaben, derweil erstellen zwei Schüler ein Quiz zu einem Buch, das sie gelesen haben. Andere sind in der Schule unterwegs und machen Fotos von bestimmten geometrischen Formen.

Individualisierung auf der Insel

Wenn eine Schule 120 Schülerinnen und Schüler zwischen der 1. und der 10. Klasse hat, liegt die durchschnittliche Klassengröße zwischen zehn und fünfzehn Schülern. Dies bietet gute Möglichkeiten, binnendifferenziert nach Schulformen und individuellen Stärken und Schwächen zu unterrichten.

Der Grundschulbereich auf Langeoog hat 48 Schüler. 15 davon sind in der Kiebitzklasse, die Christiane Schicke vor drei Jahren zum Schulstart begrüßt hat. Nach der Grundschule geht es im Klassenverband gemeinsam mit allen Schülern weiter, die andernorts auf Gymnasium, Haupt-, Real- und Förderschule aufgeteilt werden würden. Wer Abitur machen will, wechselt spätestens nach der 10. Klasse ins Internat aufs Festland. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, wenn man auf Langeoog lebt.

Kooperation zwischen Langeoog und Amerika

Neben der Individualisierung gibt es eine weitere große Chance des digitalen Wandels, die in der Inselschule bei Christiane Schicke besonders deutlich sichtbar wird: „Wir können uns global vernetzen. Wir können in die weite Welt blicken und die Welt zu den Kindern holen. Das ist gerade für uns hier auf der Insel wichtig, wo nach 1.700 Bewohnern erst einmal eine ganze Weile nichts kommt.“

Schicke arbeitet deswegen in zahlreichen Kooperationsprojekten mit anderen Schulen und weiteren Partnern. „Ich will den Schülern zeigen, dass sie alles nutzen können, was es gibt. Ich will stärker ins Bewusstsein bringen, dass die digitalen Medien nicht nur ein Werkzeug sind, sondern Möglichkeiten zur kollaborativen Zusammenarbeit eröffnen.“

Mit einer Schule in der Schweiz haben Schüler zusammen Musik gemacht. Mit Klassen in den USA hat man gemeinsam Wikis erstellt. Mit anderen Klassen, z.B. in Bolivien, gab es Video- und Blogprojekte. Einmal hat die Klasse via Twitter einen Schäfer interviewt, der in Baden-Württemberg 1000 Schafe hütet. Und manchmal treffen die Schüler via Skype auf eine Klasse, deren Standort ein Geheimnis ist.

Im Projekt „Mystery-Skype“ verbinden sich zwei Klassen über Videokonferenz, die zunächst gar nicht wissen, wo die andere Klasse sich befindet. Durch Fragen muss jede Seite herausfinden, wo die Schüler auf der anderen Seite sitzen. Sprachenlernen, Geographie, Geschichte und andere Fächer können eine Rolle spielen. Nebenbei lernen die Schüler viel über ihre eigene Heimat, die sie mit Antworten oder Tipps präsentieren müssen. Wenn zwei Schulen in deutlich verschiedenen Zeitzonen liegen, können die Videonachrichten auch als Aufzeichnung verschickt werden.

Schwierigkeiten beim Finden von Kooperationspartnern hatte Christiane Schicke nie. „Man ist ein gefragter Partner im Ausland, weil es in Deutschland noch wenige Lehrer gibt, die so etwas machen.“

E-Learning auf den Inseln

Auch auf regionaler Ebene ist Langeoog digital vernetzt. Das Land Niedersachsen startete 2012 die „School of Distance Learning Niedersachsen“ (SDLN), die erste „virtuelle Schule Niedersachsens“. Die Website formuliert noch etwas umständlich: „Dieses bundesweit einmalige Projekt bietet die Möglichkeit, Unterricht mit einem Videokonferenzsystem dezentral stattfinden zu lassen.“ Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine Revolution im deutschen Schulwesen. E-Learning im Sinne von räumlich verteiltem Lernen ist bisher an deutschen Schulen nicht vorgesehen.

Wenn auf einer Insel ein Fachlehrer fehlt, setzt sich ein Lehrer im Internat in Esens für den Unterricht vor die Webcam. Seine Klasse setzt sich dann unter Umständen aus Schülern vor Webcams auf den verschiedenen Inseln zusammen. Auch die Inselschulen können Videokonferenzen untereinander und mit dem Festland initiieren. Für die Elternarbeit des Gymnasiums setzt man ebenso auf Videokonferenzen, berichtet Christiane Schicke. „Zum Elternabend konnten bisher nur die Eltern kommen, die ein Boot hatten.“

„Der Flache Franz“ reist um die Welt

Ein anderes Beispiel für die Vernetzung der Kiebitzklasse in die große weite Welt ist die konsequente Fortsetzung eines Briefprojektes. Aus dem internationalen Projekt „Flat Stanley“ (auf Deutsch: der Flache Franz) hat Christiane Schicke ein multimediales Wiki-Projekt gemacht. Flat Stanley entstammt ursprünglich einem Kinderbuch von 1964, in dem ein Junge namens Stanley Lambchop durch einen Unfall ganz flach gepresst wird. Dank seiner neuen Eigenschaft kann er die Welt bereisen, indem er zusammengefaltet in einem Briefumschlag verschickt wird. 1995 machte ein kanadischer Lehrer daraus das „Flat Stanley Project“: Zwei (oder mehr) Schulklassen an verschiedenen Orten finden sich über eine Website zusammen. Eine Klasse bastelt papierene Flat Stanleys und schreibt ein kleines Tagesbuch von Stanleys Aktivitäten an ihrem Heimatort, Fotos inklusive. Stanley und das Tagebuch werden dann per Post (oder E-Mail) zur Partnerklasse geschickt, die das Tagebuch liest, mit neuen Erlebnissen ergänzt und zurückschickt.

Christiane Schicke hat an ihrer Schule bereits mehrere Weltreisen mit Flat Stanley durchgeführt, so dass die Schüler auf Langeoog Freundschaften nach Oregon und Florida geschlossen haben. Schicke hat die Idee der Brieffreundschaft ausgebaut und in einem Wiki zwischen den Partnerklassen fortgesetzt. Die Schüler schreiben hier Texte in Deutsch und Englisch, teilen Fotos von Stanleys Abenteuern, nehmen Lieder und Videos auf, zeichnen virtuelle Reisen auf Google Earth und vieles anderes mehr. Für Schicke ist klar: „Immer steht eine authentische Frage im Vordergrund: ‚Was wollen wir der Klasse am anderen Ende der Welt zeigen?‘ Dadurch entsteht große Ernsthaftigkeit in der Erarbeitung von Inhalten und hohe Motivation. Wir können damit buchstäblich die Welt auf unsere Insel und in unsere Klasse holen.“

Von der Bauingenieurin zur Lehrerin

Christiane Schicke ist seit 2008 Lehrerin auf Langeoog. Sie war 43 Jahre alt, als sie hier ihre erste Stelle als Lehrerin angetreten hat. Zunächst war sie auf dem Weg zur Bauingenieurin unterwegs. In der Familienzeit näherte sie sich über die Elternrolle der Schule und den digitalen Medien. „Ich habe 1998 HTML gelernt, um die Homepage für die Schule meiner Kinder zu gestalten. Dann habe ich die Computer-AG in der Schule geleitet, dann auch Lernsoftware installiert, dann irgendwann auch die Hardware übernommen.“

Während des Studiums zum Ende der Familienzeit kamen dann die pädagogischen Grundlagen dazu: Maria Montessori, Peter Petersen, Anton Makarenko, Lew Tolstoi, Falko Peschel. Die digitalen Kompetenzen eignete sich Schicke selbst an. „Ich habe ganz viel mit den Kindern mitgelernt, vor allem als mein Sohn in der 8. und 9. Klasse immer am Computer saß.“ Ihre Fortbildungsangebote hat Christiane Schicke im Netz gefunden: internationale Communities, das deutschsprachige ZUM.de, ihr Blog moewenleak.wordpress.com und Twitter sind Orte, an denen Schicke Gleichgesinnte und Anregungen findet.

Inzwischen interessieren sich auch ihre Kolleginnen auf der Insel immer mehr für digitale Medien und fragen bei Christiane Schicke nach. „Ich bin die 24/7-Hotline für alles. Die melden sich auch mal am Wochenende, weil der Drucker nicht funktioniert.“ Auch die Schulleitung steht hinter Schicke. „Das ist ganz klar. Wir sehen jeden Tag, dass hier auf der Insel nichts mehr ohne Internet funktioniert. Deswegen wollen wir auch in der Schulentwicklung in diese Richtung gehen.“

Um die Unterrichtsideen umsetzen zu können, reicht ein Computer mit Internetanschluss aus. So hat die Inselschule vor einigen Jahren angefangen. Dadurch, dass die Schule von einem aktiven Förderverein unterstützt wird, der von vielen Langeoogern mitgetragen wird, verfügt die Inselschule inzwischen in Zusammenarbeit mit dem Schulträger über eine solide Grundausstattung. Zurzeit sind die Hälfte der Klassenräume mit einem Interaktiven Whiteboard ausgestattet, alle Klassenräume besitzen Internetzugang.

Globales Eckenrechnen

Ein weiteres Beispiel dafür, wie Christiane Schicke mit dem Internet die Insel Langeoog und den Rest der Welt zusammenbringt, ist der World Maths Day. Schicke nennt es „globales Eckenrechnen, aber ohne Ausscheiden“. Weltweit nehmen Millionen (!) Schüler an diesem Wettbewerb teil, bei dem es darum geht, in vorgegebener Zeit möglichst viele Matheaufgaben richtig zu bearbeiten.

Schon drei Wochen vorher beginnt die Trainingsphase. Jeder Schüler bekommt einen individuellen Zugang zur Plattform im Web, kann seinen Namen eingeben, einen Avatar und seine Landesflagge auswählen. „Viele trainieren dann auch von zu Hause, ganz freiwillig“, berichtet Schicke. „Manch einer kommt da auf 4.000 Aufgaben, die er in einer Woche erledigt.“ Am Wettbewerbstag selbst sitzen dann alle Schüler im Computerraum vor den Aufgaben. Die Plattform macht zunächst einen Eingangstest und sortiert nach Alter, Klassenstufe und Vorwissen. So wird gewährleistet, dass jeder Schüler ungefähr gleichstarke Gegner zugeteilt bekommt. „Das ist sehr motivierend, auch für die schwachen Kinder. Jeder hat Erfolgserlebnisse.“

Für Deutsch und Naturwissenschaften gibt es inzwischen ähnliche Wettbewerbe. Christiane Schicke nimmt mir ihrer Klasse auch an der jährlichen „Computer Science Education Week“ teil. An der darin stattfindenden „Stunde des Programmierens“ (Hour of Code) nahmen nach Veranstalterangaben zuletzt weltweit 20 Millionen Menschen teil.

Inklusion und Nachteilsausgleich

Schaut man sich in der Kiebitzklasse die Freiarbeit oder die Arbeit am Wochenplan an, so werden auch die Potentiale der digitalen Medien für die inklusive Schule deutlich. Angesichts der individuellen Aufgaben beim Üben ist Christiane Schicke überzeugt: „Digitale Medien können einen Nachteilsausgleich bringen, vor allem bei Behinderungen. Aber es profitieren alle durch die Individualisierung – auch diejenigen, die schneller sind und schon mal vorlaufen können.“

Es sind schon kleine Schritte, die große Erleichterungen bringen: „Wenn ich ein Kind mit feinmotorischen Schwächen einen Text mit der Tastatur anstatt mit dem Stift schreiben lasse, dann kann es um den Inhalt gehen, für den Schüler und für mich. Da entstehen dann plötzlich viel längere und bessere Texte, weil der individuelle Nachteil durch Technik ausgeglichen wird.“

Der geduldige Computer

Auch jenseits der besonders markanten Beispiele schätzt Christiane Schicke die Vorteile von Lernprogrammen, Apps und Online-Übungen für das individuelle Lernen. „Eine stärkere Differenzierung wird schon dadurch möglich, dass die digitalen Medien der Lehrkraft Arbeit abnehmen. Programme geben sofort Rückmeldung, sind geduldig und nehmen nichts persönlich. Mit ihnen kann man auch keine Machtspielchen treiben oder verhandeln nach dem Motto: ‚Wenn ich mich dumm genug anstelle, erlässt du mir einen Teil der Aufgaben?’ Programme stellen sachlich ihre Aufgaben und warten.“

Große Probleme mit dem Ablenkungspotential digitaler Medien hat Schicke nicht. Das liegt zumindest teilweise daran, dass die Geräte in ihrem Klassenzimmer gar keine großen Alternativen bieten. „Ein PC oder ein Tablet ohne Internet und mit ausgesuchten Anwendungen bietet keine Möglichkeit zu entkommen. Selbst wenn das Kind ein anderes als das vorgesehene Programm wählt, bleibt es auf Lernprogramme beschränkt.“ In dieser Konstellation sieht Schicke die digitalen Medien sogar im Vorteil: „Die Programme an sich bieten relativ wenig Möglichkeiten, etwas Anderes mit ihnen zu machen als vorgesehen. Wenn ich Kinder mit enaktivem Material alleine lasse, werden die Rechenstäbe durchaus zu Bauklötzen. Und durch die Glassteine kann man wunderschön die Gegend in bunt betrachten.“

Diagnostik und adaptives Lernen

Eine große Versprechung der digitalen Lernsoftware lautet: Adaptive Learning. Dahinter steht die Idee, dass die Programme aus den Fehlern ihrer Benutzer „lernen“, welche Unterstützung sie jedem Lernenden individuell anbieten müssen. Christiane Schicke ist skeptisch: „Standardisierte Tests wie die Hamburger Schreibprobe zeigen regelmäßig, dass es immer wieder neue Fehler gibt.“ Nicht nur das Lernen, sondern auch das Fehler-Machen wäre demnach höchst individuell.

„Die Diagnostik-Fähigkeit des Lehrers ist durch den Algorithmus nicht zu ersetzen“, sagt Schicke voraus. „Das Auge des Lehrers bleibt überlegen. Gerade bei Inklusion kann kein Programm die möglichen Probleme abdecken.“ Das automatische Feedback ist für Schicke dennoch eine deutliche Erleichterung. Denn in 90 Prozent der Fälle handelt es sich um einige wenige, einander ähnliche Probleme. In den anderen 10 Prozent sind es sehr individuelle Probleme, bei denen Standard-Unterstützungen nicht weiterhelfen, sondern persönliche, individuelle Rückmeldungen benötigt werden. Und dafür braucht es wieder eine persönliche, individuelle Diagnose.

Videoanalyse

Zur Diagnose lässt sich Schicke statt durch Adaptive Learning von einer deutlich einfacheren Technik unterstützen: ihre Handykamera. „Wenn es zeitlich geht, werte ich zuerst die Arbeitsergebnisse aus und schaue dann dem Kind beim Arbeiten zu, um herauszufinden, wie es besser unterstützt werden kann.“ Wenn die Zeit im Unterricht dafür nicht reicht, stellt sie ihr Handykamera neben das Kind und wertet das Video nach dem Unterricht in Ruhe aus. „So kann ich sehr genau hinschauen, welches Kind was macht und braucht.“ Auch sonst nutzt Schicke häufig Film- oder Tonaufnahmen zur Unterrichtsdokumentation und -auswertung. „Vereinzelt habe ich mich bei problematischem Verhalten auch schon mit dem Kind und / oder mit einer zweiten Lehrkraft hingesetzt und Videoausschnitte angeschaut und analysiert.“

Wikis

Für Christiane Schicke ist es selbstverständlich, dass große Teile ihrer Arbeit öffentlich einsehbar sind. In Form von Wikis dokumentiert sie zum Beispiel ihren Unterricht und Projektwochen auf inselschule.wikispaces.com und die Arbeit mit der Kiebitzklasse auf kiebitzklasse.wikispaces.com. Auf den Seiten der Wikis finden sich zum Beispiel Links zu Unterrichtsmaterialien, Spiele, Elterninfos, Hausaufgaben und die Dokumentation zahlreicher Projekte. Eigene Inhalte veröffentlicht Christiane Schicke dort unter freier Lizenz, so dass andere sie weiternutzen können. Getreu ihrem Credo: „Die digitalen Medien machen das Lernen offener.“


Eckdaten zu Person und Schule

Name
Christiane Schicke

Fächer
Mathematik, Musik, Sachunterricht, fachfremd: Informatik

Schule

  • Inselschule Langeoog
  • Schulform: Grund-/Haupt-/Real- und Förderschule
  • ca. 120 Schülerinnen und Schüler
  • Gymnasial empfohlene Schüler verbleiben im Realschulzweig der Schule möglichst bis einschl. Klasse 10
  • Klassen jahrgangsgebunden, also bis zu 3 Schulformen in einer Klasse, einzügig
  • Mitglied der School of Distance Learning Niedersachsen

Aufgaben in der Schule

  • Fachleiterin Musik
  • Fachleiterin Informatik
  • Beauftragte für neue Medien
  • Homepagebetreuung
  • Mitglied der IServ-Admin-Gruppe
  • Leitung des Grundschulchores
  • Klassenleitung

Berufsbiographie

  • 1982 Studium des Bauingenieurwesens (Küstenwasserbau, Hydrologie, Siedlungswasserwirtschaft) TU Braunschweig
  • 1984 – 1986 stud. Hilfskraft am Institut für Vermessungskunde TU Braunschweig
  • 1987 – 2002 Familienzeit
  • 2002 – 2007 Studium Lehramt GHR (Mathematik, Musik, Sachunterricht) TU Braunschweig
  • 2007 1. Staatsexamen „Portfolio als Möglichkeit zur Leistungsbewertung im Sachunterricht”
  • 2008 wiss. Hilfskraft mit Examen am Institut für Erziehungswissenschaften TU Braunschweig, Projekt GASS
  • 2008 2. Staatsexamen „Systematischer Erwerb von Strategien zur Bewältigung mathematischer Problemlöseaufgaben im Unterricht einer dritten Grundschulklasse“
  • seit 2008 Lehrerin Grund-/Haupt-/Realschule an der Inselschule Langeoog
  • 2012 Zusatzqualifikation „Didaktik der Informatik“
  • seit 2013 Lehraufträge zum Thema “Digitale Medien im Grundschulunterricht” an der Pädagogischen Hochschule Freiburg in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Wolfram Rollett

 

Links


 

Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.

Der Beitrag Eine Verbindung in die Welt – Digitale Medien im Unterricht von Christiane Schicke erschien zuerst auf J&K - Jöran und Konsorten.

„Ein Experte zu digitale Bildung“ – mein re:publica-Vortrag bei 3sat nano

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„ein Experte“ zu digitale Bildung – Jöran Muuß-Merholz bei 3sat nano (Schnappschüsse aus dem Video)

Mein Vortrag „Reset #digitaleBildung!“ hat es in den TV-Beitrag von 3sat nano über die re:publica geschafft. Auf der Website von 3sat kann man den Beitrag (noch) anschauen. Ich fühle mich sehr geschmeichelt, dass der 3sat-Reporter ihn als seinen „persönlichen Lieblingsvortrag“ bezeichnet.

„Ein Experte“

Kleines Kuriosum: Die Untertitel mit Namen der sprechenden Personen ist im Video im Netz nicht zu sehen (aber im Fernsehbeitrag), so dass ich dort nur als „ein Experte“ zu digitale Bildung benamst bin. 

Eine Korrektur

Eine kleine Korrektur bzw. eine Erweiterung zu einer Aussage des Beitrags: Im Vortrag ging es nicht (nur) um Schule, sondern um alle Bildungseinrichtungen. Mehr dazu findet man in den Folien und Tweets zum Vortrag. Und hoffentlich demnächst in einer Aufzeichnung des Vortrag.

Der Beitrag „Ein Experte zu digitale Bildung“ – mein re:publica-Vortrag bei 3sat nano erschien zuerst auf J&K - Jöran und Konsorten.

„Digitale Lernszenarien“ – Vierteilige Radioreihe im ORF 1

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Ein buntes Ohr als Kunst – vor der Tür des Radiohauses des ORF

Ein buntes Ohr als Kunst – vor der Tür des Radiohauses des ORF

Das österreichische Radio oe1 sendet heuer das Radiokolleg „Digitale Lernszenarien“, das aus vier Sendungen besteht. Sie sind innerhalb von 7 Tagen online nach-hörbar.

Der Macher Winfried Schneider hat dafür spannende Schulen besucht und interessante Interviewpartner gesprochen. Auch ich durfte für ein Interview nach Wien kommen.

Neben dem Audiostream gibt es online auch umfassende Buch- und Linkempfehlungen.

Sendetermine:

Montag, 30. Mai bis Donnerstag, 2. Juni 2016, täglich
jeweils 9.05 bis 9.30 Uhr und 22:08 bis 22:30 Uhr

Interviewpartner und Interviewpartnerinnen:

Teil 1 – Montag, 30.5.2016: Kinder 1b. VS Zeltgasse: Moritz ,Theo , Ada; David Schmitzberger, Peter Sykora,Gerhard Scheidl, Kurt Söser

Teil 2 – Dienstag, 31.5.2016: Jöran Muuß-Merholz, Sandra Schön, Hermann Morgenbesser, eLearning Bazar – Schüler/Schülerin: Timo Laimer, Antonija Aždajič, Roman Herunter; Jörg Hofstätter

Teil 3 – Mittwoch, 1.6.2016: Steve Kelly; SchülerInnen HLW 10: Jasmin Thekumthott, Agit Düzgün und Monika Lepan; Anton Bollen, Julia Müter, Sebastian Schmidt

Teil 4 – Donnerstag, 2.6.2016: David Röthler,  Sandra Schön, Jöran Muuß-Merholz

Web

Die Adresse der online-Programmseite für den 1. Teil (Montag) lautet: http://oe1.orf.at/programm/438074

Für die Buchtipps und Links auf dieser und den weiteren drei Programmseiten beim jeweiligen Datum bitte nach unten scrollen. Innerhalb von 7 Tagen nach der Erstausstrahlung können sämtliche Sendungen über die Funktion ‘7 Tage Ö1’  zeitautonom im Internet oder über die Ö1-App als Stream nachgehört werden.

Bonus

Ab September 2016 werden die Sendungsaudios mit begleitendem Unterrichtsmaterial über ‚Ö1 macht Schule‘  abrufbar sein.  Ö1 macht Schule ist ein Kooperationsprojekt von Ö1, PH Wien und (dem österreichischen) BMBF. Im Rahmen des Projekts wird eine Auswahl an Sendungen aus dem Ö1-Programm für schulische Zwecke kostenlos und auf Dauer zum Download angeboten. Aktuell (Stand Mai 2016) sind bereits 275 Themenpakete (= Sendungsaudios, Unterrichtsmaterialien als pdf, Links und Buchtipps) abrufbar. Zielgruppe ist die Sekundarstufe II. Zusätzliche digitale Übungsbeispiele mit Bezug zu den Ö1-Sendungen auf Ö1 macht Schule sind in Vorbereitung.

[Text größtenteils von Winfried Schneider]

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JRA009 Ist die Integration digitaler Medien in den Schulalltag ein Langstreckenlauf mit Hindernissen?

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Jöran ruft an bei Richard Heinen, Geschäftsführer des learning lab an der Universität Duisburg-Essen

Richard Heinen, Foto von Klaus Schwarten unter CC BY 4.0

Richard Heinen, Foto von Klaus Schwarten unter CC BY 4.0


Links

CC-BY_iconText und Podcast stehen unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt: Jöran Muuß-Merholz.

 

Der Beitrag JRA009 Ist die Integration digitaler Medien in den Schulalltag ein Langstreckenlauf mit Hindernissen? erschien zuerst auf J&K - Jöran und Konsorten.

JRA038 Über was sollen Erstklässler in Neuseeland während des Unterrichts mit ihren Eltern chatten?

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Jöran ruft an in Neuseeland, wo Alexandra Hessler mit ihren Kindern gerade einen Kulturschock in Sachen digitale Schule erlebt.

Sohn von Alexandra Hessler mit seiner Lehrerin. Foto: Alexandra Hessler, privat.

Sohn von Alexandra Hessler mit seiner Lehrerin. Foto: Alexandra Hessler, privat.

Alexandra Hessler, Foto: privat

Alexandra Hessler, Foto: privat

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CC-BY_iconText und Podcast stehen unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Jöran Muuß-Merholz.

 

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